Ukraine Aktuell Nr. 635 – Extraserie (20.11.23/ 9Uhr)

•           Wie Russland die Identität und Geschichte der Ukraine zerstört, Teil 4 von 4.

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Abgeschnitten von der Welt und gefangen zwischen dem Chaos der Kämpfe leben die ukrainischen Bewohner in den von Russland besetzten Gebieten Donezk, Luhansk und in Teilen von Kherson und Saporischschja in einer alptraumhaften Existenz.

Dies sind Auszüge aus dem Report des «Investigative Journalism Network» der EBU, der Europäischen Broadcast Union (Europäische Rundfunktion), also der Vereinigung von 68 öffentlich-rechtlicher TV- und Radiostationen.

Die Journalisten haben ihre Untersuchung während Monaten vorangetrieben und am 16.11.2023 veröffentlicht. Der Bericht zeigt die harte Realität der Assimilierung von Gebieten, die Russland in der Ostukraine illegal annektiert hat: https://investigations.news-exchange.ebu.ch/russification-in-occupied-ukraine/index.html

WIEDERAUFBAU NACH RUSSICHER ART

«Das Ziel ist einfach und verständlich», sagte Putin und kündigte die Bereitstellung von fast 20 Milliarden Dollar für die annektierten Gebiete in den nächsten zwei Jahren an, «damit sich die Menschen als Teil eines grossen Landes fühlen und alle Vorteile dieses großen Landes für sich selbst spüren können».

In schwindelerregender Geschwindigkeit wird Geld in den Wiederaufbau von Städten wie Mariupol gesteckt. Die Einwohner dieser Küstenstadt, die jetzt eine Partnerstadt von Putins Heimatstadt Sankt Petersburg ist, haben neue Wohnungen und Verkehrsmittel erhalten und wurden sogar von Putin selbst besucht.

«Der Wiederaufbau von Mariupol ist in vollem Gange, und die Menschen haben hier Arbeit», sagte Ruslan, ein Bauunternehmer in der Stadt, gegenüber Journalisten, die über den Jahrestag der Annexion der neuen Regionen berichteten, und zwar unter den von den russischen Behörden auferlegten Berichtsrestriktionen.

Andere waren von der neuen Realität weniger überzeugt und haben gemischte Gefühle. «Nach dem Krieg ist der Wiederaufbau schwierig», sagte die Rentnerin Svetlana. «Die Menschen haben alles verloren: ihre Wohnung, ihre Lieben. Ich kann nicht sagen, dass sich der Lebensstandard verbessert hat. Es ist noch sehr früh, darüber zu sprechen.»

AUFBAU DES MARIUPOL THEATERS

Moskau hat den Wiederaufbau des Theaters von Mariupol zu einem vorrangigen Projekt erklärt. Es ist der Schauplatz eines der tödlichsten russischen Einzelangriffe des Krieges, bei dem Hunderte von Menschen ums Leben kamen, begraben unter den Trümmern eines Gebäudes, das als Schutzraum diente und auf dem in großen russischen Lettern das Wort «Kinder» geschrieben stand.

Während das Theater restauriert wird, wird die neue Schauspielertruppe am Staatlichen Russischen Institut für Darstellende Künste in Sankt Petersburg ausgebildet. Alle dafür entstehenden Kosten haben russische und private Sponsoren übernommen.

Der Zugang zu Immobilien in der besetzten Ukraine ist auf russische Staatsangehörige beschränkt, was der Kreml mit Sicherheitsgründen rechtfertigt. Diejenigen, die vor der Besatzung fliehen, wissen, dass sie in den meisten Fällen alles, was sie nicht mitnehmen können, für immer verlieren werden.

WOHNEIGENTUM GEPLÜNDERT

Natalia Rudych verfolgte von Kyiv aus hilflos den Videostream der Sicherheitskameras an ihrem Haus, der zeigte, wie ein Auto vorfuhr und Menschen in ihr Haus in Melitopol eindrangen. «Sie nahmen alles aus dem Haus mit. Alles, was man mitnehmen konnte, wurde mitgenommen. Wir haben fünfzehn Jahre damit verbracht, dieses Haus zu bauen, weil wir dachten, wir würden es für ein ganzes Leben bauen.»

Sie behauptet, sie habe von ihren ehemaligen Nachbarn gehört, dass sowohl ihr Haus als auch ihr Geschäft von FSB-Geheimdienst-Mitarbeitern übernommen worden seien und dass ihr Eigentum mehrmals weiterverkauft worden sei.

Viktoria Lisogor, die ehemalige Leiterin der Bibliotheken von Mariupol, hält die Satellitenbilder in der Hand, auf denen ihr Haus zu sehen ist, und kann die Tränen nicht zurückhalten. Ihr Gebäude wurde während der brutalen Belagerung der Stadt bombardiert, und an seiner Stelle wurde ein neuer Komplex gebaut. «Ich sehe mein Leben zerstört. Jetzt wird mir klar, dass es nicht mehr existiert. Wenn man es nicht sieht, denkt man nicht darüber nach, aber wenn man es sieht, tut es wirklich weh.»

Sie hat die Berichte verschiedener Nachrichtenorganisationen wie der BBC oder des unabhängigen russischen Senders Meduza gesehen, in denen Menschen aus Russland Wohnungen und Häuser in der Gegend kaufen, angelockt von der Möglichkeit, ein zweites Zuhause am Meer zu besitzen.

«Ich weiß nicht, ob sie dort bleiben können, das hängt von ihrem Gewissen ab, sie haben das Grauen nicht gesehen», sagt sie. «Unter jeder Gebäuderuine liegen die Gebeine von Menschen. Genau hier, in dieser Ausgrabung, liegen die Überreste von vier meiner Nachbarn, denn niemand hat ihre Leichen bergen können. Und das ist nur mein Haus. Wer weiss, wie viele Häuser es in Mariupol noch gibt, in denen Menschen lebendig unter den Trümmern begraben wurden?»

IMPORT VON RUSSEN

Das Regionale Zentrum für Menschenrechte hat nach eigenen Angaben die «Kolonisierung» der Ostukraine seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 in Form eines Massentransfers russischer Bürger dokumentiert, die dort leben.

Ein Modell, das sich nun auch in den neu annektierten Regionen wiederholt. «Es kommen Russische Richter, russisches medizinisches Personal, russische Lehrer, russische Leiter von Bildungseinrichtungen und sogar russische Geschäftsleute», erklärt Rashevska. «Auf die Halbinsel Krim sind schätzungsweise zwischen 600’000 und 800’000 Menschen gekommen. In den neu besetzten Gebieten ist die Zahl geringer, weil die Russische Föderation die Sicherheit dieser Menschen nicht garantieren kann, weil die Frontlinie nah ist.»

UMFASSENDE KRIEGSVERBRECHEN

Im Februar 2022 rechtfertigte Putin die Invasion als notwendig, um «Menschen zu schützen, die durch den Völkermord des Kiewer Regimes missbraucht wurden».

Zwanzig Monate später wendet sich der Yale-Historiker Timothy Snyder mit diesem Argument gegen den russischen Präsidenten und wirft ihm das ultimative Kriegsverbrechen vor. «Auf rechtlicher Ebene ist das Bestreben, aus Ukrainern Russen zu machen, ein Völkermord», sagt Snyder, der sich auf Osteuropa und die Sowjetunion spezialisiert hat. «Die Russifizierung hat ein zerstörerisches Element: ‹Wir müssen jeden, der mit der ukrainischen Idee in Verbindung steht, physisch vernichten’».

Auch die Kyiver Regierung bezeichnet Russlands militärische Angriffe auf die Ukraine im Allgemeinen als «Völkermord».

«Was ist es, wenn nicht ein Völkermord, wenn die Russische Föderation nur die zivile Infrastruktur zerstört?», fragt Dmytro Lubinets, Menschenrechtsbeauftragter des ukrainischen Parlaments. «Bis jetzt sind mehr als 3’200 Bildungseinrichtungen zerstört worden. Das sind Schulen, Kindergärten. Mehr als 1’200 medizinische Einrichtungen. Und das in der ganzen Ukraine.»

JURISTEN REDEN NICHT VON VÖLKERMORD

Die meisten der für diese Untersuchung befragten Rechtsexperten erklärten jedoch, dass die von Russland begangenen Verbrechen nicht als Völkermord einzustufen seien. «Die juristische Definition ist recht eng gefasst», sagt William Schabas, Professor für internationales und humanitäres Recht an der Middlesex University in London. «Und sie wurde von den Gerichten so ausgelegt, dass sie die vorsätzliche physische Zerstörung, die Ausrottung einer nationalen, rassischen, ethnischen oder religiösen Gruppe bedeutet. Das ist die Voraussetzung. Sie ist sehr strikt. Und es ist nicht so, dass sie nie zutrifft; in Ruanda traf sie voll und ganz zu».

Während Russland und die Ukraine an den Fronten einen Zermürbungskrieg führen, wachen Millionen von Menschen in dem von Russland kontrollierten Landkorridor zwischen der Krim und Luhansk jeden Morgen in einem Leben auf, in dem die Moskauer Regeln gelten. Wenn man die Regeln bricht oder ignoriert, kann es schwer werden zu überleben.

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