Ukraine Aktuell Nr. 633 – Extraserie (18.11.23/18Uhr)

•            Wie Russland die Identität und Geschichte der Ukraine zerstört, Teil 2 von 4.

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Abgeschnitten von der Welt und gefangen zwischen dem Chaos der Kämpfe leben die ukrainischen Bewohner in den von Russland besetzten Gebieten Donezk, Luhansk und in Teilen von Kherson und Saporischschja in einer alptraumhaften Existenz.

Dies sind Auszüge aus dem Report des «Investigative Journalism Network» der EBU, der Europäischen Broadcast Union (Europäische Rundfunktion), also der Vereinigung von 68 öffentlich-rechtlicher TV- und Radiostationen.

Die Journalisten haben ihre Untersuchung während Monaten vorangetrieben und am 16.11.2023 veröffentlicht. Der Bericht zeigt die harte Realität der Assimilierung von Gebieten, die Russland in der Ostukraine illegal annektiert hat: https://investigations.news-exchange.ebu.ch/russification-in-occupied-ukraine/index.html

DER ZWANG ZUM PASS

Im Frühjahr 2023 forderte Präsident Putin seine Regierung auf, «die Dinge in Ordnung zu bringen, und zwar schnell», um die Aushändigung von Pässen in den annektierten Gebieten zu erleichtern. Überall in den vier Regionen entstanden mobile und provisorische Passbüros, um so viele Bürger wie möglich vor den Kommunalwahlen im September zu registrieren. Bis Mai hatten nach Angaben des russischen Premierministers bereits über 1,5 Millionen Menschen in diesen Gebieten die russische Staatsbürgerschaft erhalten.

Die wehrlosesten Gruppen scheinen die Zielscheibe zu sein. Gemäss der Anweisung, werden vorrangig Bürger mit eingeschränkter Mobilität passportiert. Auf offiziellen Social-Media-Kanälen sind russische Beamte in Militäruniformen zu sehen, die Altenheime in Luhansk besuchen oder Hausbesuche in Saporischschja und Kherson machen, wo bewaffnete Männer Senioren bei der Beantragung und Abnahme von Fingerabdrücken helfen.

KEIN PASS = KEINE HILFE

Als der Nova-Kachowka-Damm im Juni zerstört wurde, schufen die Besatzungsbehörden ein zweistufiges System der humanitären Hilfe für die von den Überschwemmungen Betroffenen, mit besseren Bedingungen für «russische» Bürger. «Während der Überschwemmungen sprachen sie die Menschen an, die auf ihren Hausdächern sassen, und fragten sie, ob sie russische Pässe hätten», sagt Alexander Samoilenko, Leiter des Regionalrats von Kherson in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten. «Hatten Sie keine Pässe wurde ihnen nicht geholfen».

«Ohne russischen Pass gibt es keine Rente, ohne russischen Pass gibt es keine Lebensmittel, und über medizinische Leistungen wird nicht einmal diskutiert», sagt Samoilenko.

Wenn eine Person in den annektierten Gebieten erkrankt, kann die richtige Staatsangehörigkeit buchstäblich über Leben und Tod entscheiden. In diesen Gebieten gibt es keine privaten Versicherungsgesellschaften, und der Zugang zu Ärzten und Medikamenten wird vom russischen Staat kontrolliert, der das ukrainische Gesundheitssystem übernommen hat.

Nach Angaben des Büros des russischen Innenministeriums in Kherson wurden in etwas mehr als zwei Wochen fast 400 Pässe an Evakuierte aus den überschwemmten Gebieten im provisorischen Unterkunftszentrum Skadovska ausgehändigt. Obwohl der von Russland ernannte Gouverneur der Region, Vladimir Saldo, die Zerstörung des Staudamms zunächst herunterspielte, erwies sich die Zerstörung des Staudamms für die Besatzungsbehörden als einmalige Gelegenheit, die Registrierung der Bürger im russischen System zu erhöhen, da sich Tausende von Binnenvertriebenen für humanitäre Hilfe meldeten.

DEPORTIERUNG UND TOD BEI KRITIK

Der Treueeid auf Russland ist für Menschen, die unter der Besatzung leben, keine Frage der Wahl und trotzdem garantiert er kein friedliches Leben. Neue, von Putin in diesem Jahr unterzeichnete Dekrete erlauben es den Behörden, denjenigen die Staatsbürgerschaft zu entziehen, die Russlands Krieg kritisch gegenüberstehen, und für «Hochverrat» wurden härtere Strafen in das Gesetz geschrieben.

«Auch diejenigen, die die russische Staatsbürgerschaft annehmen, können in Zukunft ausgewiesen oder deportiert werden, weil sie illoyal sind oder gegen andere Regeln und Bestimmungen der russischen Gesetzgebung verstossen», sagt Katerina Rashevska vom Zentrum für Menschenrechte in Kyiv.

«Dabei kann es sich um gewöhnliche Kriminelle handeln, aber auch um politische Gefangene, die in Haftanstalten auf dem Gebiet der Russischen Föderation gebracht werden. Manchmal wissen wir nicht einmal, wo sich diese Menschen befinden. Vor der vollständigen Invasion haben wir berechnet, dass mindestens 12’000 Menschen illegal von der Halbinsel Krim deportiert wurden.»

Artem Petrik lebte unter russischer Herrschaft im besetzten Kherson; er sagt, dass es in «Noworossija» oder «Neurussland», wie diese Gebiete vom Kreml genannt werden, keinen Platz für abweichende Meinungen gibt, was die Situation auf dem russischen Festland widerspiegelt.

«Jeder war in Gefahr, niemand war sicher», sagt Petrik. «Die Hauptziele waren die Familien der ukrainischen Soldaten, Polizisten, Richter, Journalisten, Lehrer und natürlich Wissenschaftler, vor allem Historiker. Wer die ukrainische Identität unterstützen oder demonstrieren wollte, bekam grosse Probleme: Inhaftierung, Tod, Folter.»

Natalia Rudych beschreibt, wie streng die russische Armee ihre Stadt Melitopol kontrollierte. «Die Märkte wurden von FSB-Geheimdienst-Personal und Soldaten bewacht. Sie hielten die Leute an und kontrollierten sie, wann immer sie wollten», erinnert sie sich. «Viele Menschen wurden einfach mitten auf der Strasse verschleppt. Man konnte auf der Strasse gehen und wurde ohne jede Erklärung in eine unbekannte Richtung gebracht. Viele Bekannte, die entführt wurden, sind bis heute unauffindbar. Und das geschah sehr häufig.»

«WATER-BOARDING»

Der ehemalige Polizist Anton Lomakin aus Kherson war vier Monate lang inhaftiert, als Russland die Stadt übernahm. Lomakin sagt, er sei in der Haft gefoltert worden. «Sie zogen mir einfach den unteren Teil des T-Shirts über den Kopf, wie eine Maske, die mein Gesicht vollständig bedeckte. Drei oder vier Leute standen zur Seite und hielten meine Arme und Beine fest. Einer von ihnen nahm das Wasser, eine Sechs-Liter-Plastikflasche, und begann langsam, dieses Wasser auf mein Gesicht zu giessen», sagt er in der Stadt Odessa, wo er heute lebt.

«Man beginnt, das Bewusstsein zu verlieren und zu ersticken, wenn man sich in diese Welt begibt und ständig auf der Kippe zwischen Leben und Tod balanciert», fügt Lomakin hinzu: «Sie giessen und fragen ‹Wirst du antworten? Wirst du antworten?› Und du sagst: ‹Ja, ich will, ich will›, nur um das Giessen zu stoppen. Sie lassen dich los, du atmest und spuckst das Wasser aus. Ohne dass du etwas sagen kannst, setzen sie dich wieder ab und beginnen erneut zu giessen. Sie machen so weiter, bis man entweder anfängt zu kotzen oder Krämpfe bekommt oder einfach das Bewusstsein verliert.» 

SYSTEMATISCHE FOLTER

Die Vereinten Nationen haben bestätigt, dass russische Behörden in der Ukraine «weit verbreitete und systematische Folter anwenden», was Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen könnte, heisst es in einem Ende Oktober 2023 veröffentlichten Bericht der unabhängigen internationalen Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für die Ukraine.

«Die Folter ging bis zum Tod», sagt Leonyd Remyga, Chefarzt des Städtischen Krankenhauses von Kherson. Er wurde im September 2022 verhaftet und in eine Untersuchungshaftanstalt gebracht, wo er nach eigenen Angaben selbst Opfer von Folter wurde und auch andere gefolterte Häftlinge medizinisch versorgte.

«Die Folter wurde mit großer Geschicklichkeit und körperlicher Gewalt durchgeführt», erzählt er. «Sie schlugen mit einem Stock auf Knie, Finger, Hände, Rippen usw. ein. Ich habe mich als Arzt um diese Menschen gekümmert und gesehen, dass sie alle geschlagen, gequält und blutüberströmt waren.»

DIE ZEUGIN EMILIA ZASHERYNSKA

Als sich die ukrainischen Truppen näherten, um Kherson zurückzuerobern, wurde der ehemalige Polizist Anton zunächst nach Hola Prystan, einem Dorf am linken Ufer des Dnipro, und dann nach Chaplynka, einem Dorf weiter südlich auf dem Weg zur Krim, gebracht.

Seine Grossmutter Emilia Zasherynska sagte, sie habe verzweifelt nach ihm gesucht, und als sie seinen Aufenthaltsort fand, beantragte sie einen russischen Pass, um ihn im Gefängnis besuchen und ihm Essen bringen zu können.

Zasherynska und ihr russischstämmiger Ehemann hatten ihren Enkel seit seiner Kindheit aufgezogen, und sie ist überzeugt, dass der Druck, Anton in dieser Situation zu sehen, bei ihrem Mann einen Herzanfall verursachte. «Er war sehr besorgt, er war nervös, er lief von einem Zimmer zum anderen», erinnert sie sich. «Er war unfähig, irgendetwas zu tun, und dann starb er, und ich musste ihn allein beerdigen»

Zasherynska sagt, sie sei Zeugin der Verlegung von Kindern aus dem nahe gelegenen staatlichen Pflegeheim Oleshky gewesen, das im Oktober 2022 zu den Waisenhäusern gehörte, aus denen die russischen Streitkräfte Kinder entführten und auf die Krim und nach Russland brachten. «Alles geschah vor meinen Augen», erinnert sie sich. «Wie sie die Kinder auf die Boote brachten – überfüllte Boote, eines nach dem anderen. Grosse Busse warteten, und die Polizei umstellte den Kai in Oleshky, um sicherzustellen, dass keine Fremden in der Nähe waren. Sie holten die Kinder ab und brachten sie auf die Krim.»

Der Internationale Strafgerichtshof hat internationale Haftbefehle gegen Wladimir Putin und seine Kinderrechtsbeauftragte Maria Lvova-Belova wegen des Kriegsverbrechens der unrechtmässigen Verbringung und Deportation von Kindern aus der Ostukraine in die Russische Föderation erlassen.

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Teil 3 des Reports morgen Sonntag an dieser Stelle.

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