Ukraine Aktuell Nr. 625 (10.11.2023/20Uhr)

WARUM RUSSLAND VERHANDELN WILL

In den letzten Wochen haben unter anderem der russische Aussenminister Sergej Lawrow und Moskaus Lakaien wie Sarah Wagenknecht von einer Verhandlungslösung für den Ukraine-Krieg gesprochen. Diese Ideen sind nicht neu, sondern entsprechen dem Moskauer Narrativ für Konflikte. Dies zeigt ein ukrainischer Reserve-Offizier auf, der auf Twitter unter dem Namen «Tatarigami» publiziert. Hier sein Text – redaktionell von mir leicht bearbeitet und gekürzt.

Im Jahr 2021 veröffentlichte ein Team von Analysten unter der Leitung von @KofmanMichael ein Dokument mit dem Titel «Russian Military Strategy: Core Tenets and Operational Concepts». («Russische Militärstrategie: Grundgedanken und operative Konzepte»).

Michael Kofman ist ein amerikanischer Militäranalyst, der für sein Fachwissen über die russischen Streitkräfte bekannt ist. Er ist Direktor des «Russia Studies Program» am CAN und Fellow des «Center for a New American Security» https://en.wikipedia.org/wiki/Michael_Kofman

Im Kofmann-Papier werden die Kernpunkte der russischen Militärstrategie untersucht. Dem zufolge spiegelt die russische Militärstrategie wider, dass Russland davon ausgeht, in einem regionalen oder gross angelegten Krieg gegen einen technologisch überlegenen Gegner die militärisch unterlegene Partei zu sein.

Von besonderer Bedeutung für unsere Diskussion ist dieser Auszug: «Die Gesamtaufgabe der russischen Militärstrategie besteht darin, den Gegner in der Anfangsphase des Krieges daran zu hindern, ein entscheidendes Ergebnis zu erzielen, ihn in einen Zermürbungskonflikt zu zwingen und seiner militärischen und wirtschaftlichen Infrastruktur Kosten aufzuerlegen, so dass er eine Beendigung des Krieges zu akzeptablen Bedingungen anstrebt.»

Obwohl diese Strategie ursprünglich für Szenarien gegen einen grösseren Gegner wie die NATO entwickelt wurde, gilt ihr Kerngedanke auch für die russische Invasion in der Ukraine. Ziel ist es, die Ukraine an der Erzielung entscheidender Ergebnisse zu hindern, die Ukraine zur Zermürbung zu zwingen und ihrer militärischen und wirtschaftlichen Infrastruktur maximale Kosten aufzuerlegen, um sie zu zwingen, die Beendigung des Krieges zu für Russland günstigen Bedingungen anzustreben.

Treten wir nun einen Schritt zurück und betrachten wir die strategischen Ziele beider Länder:

  • RUSSLAND wollte mit seiner auf 3 Tage angelegten Invasion die ukrainische Regierung ersetzen, ein Marionettenregime installieren und die Kontrolle über das ukrainische Territorium erlangen. Da diese Ziele nicht erreicht werden konnten, musste Russland seine Ziele anpassen. Derzeit erscheint es unrealistisch, dass die ursprünglichen Ziele erreicht werden.
  • Die strategischen Ziele der UKRAINE konzentrieren sich auf die Befreiung aller ihrer Territorien und die Rückkehr zu international anerkannten Grenzen. Obwohl es Russland nicht gelingt, seine strategischen Ziele zu erreichen, bleibt es dennoch in der Lage, die strategischen Ziele der Ukraine zu vereiteln, wie die Ereignisse während der Gegenoffensive im Sommer und Herbst 2023 zeigen.

Dieses Verständnis ist von entscheidender Bedeutung. Kehren wir zum Dokument zurück und wiederholen wir es: «Das Ziel ist es, den Gegner daran zu hindern, ein entscheidendes Ergebnis zu erzielen, ihn in einen Zermürbungskonflikt zu zwingen und seiner militärischen und wirtschaftlichen Infrastruktur Kosten aufzuerlegen, so dass er eine Beendigung des Krieges zu akzeptablen Bedingungen anstrebt.»

Im März 2019 räumte General Gerasimow an der Russischen Akademie der Militärwissenschaften ein, dass «in modernen Konflikten neue Konfrontationssphären entstehen und sich die Methoden der Kriegsführung zunehmend auf die integrierte Anwendung politischer, wirtschaftlicher, informationeller und anderer nichtmilitärischer Massnahmen verlagern, die unter Rückgriff auf militärische Gewalt realisiert werden.»

Russische Theoretiker sehen in der Informationskriegsführung ein wirksames Mittel, um die gegnerische Befehls- und Kontrollstruktur zu stören, den Gegner zu täuschen, die Instabilität innerhalb der gegnerischen Grenzen zu fördern und sowohl die Zivilbevölkerung als auch die Streitkräfte so weit zu demoralisieren, dass sie den Willen zum Widerstand verlieren.

Dieser Ansatz ist nicht neu. Die Strategie, «eingefrorene Konflikte» als militärisches und politisches Instrument zu nutzen, wird von Russland seit der Auflösung der Sowjetunion eingesetzt.

Der Einmarsch russischer Truppen in die Republik Moldau und die Errichtung des so genannten «Transnistrien», welches bis heute in der Republik Moldau besteht, dient als Beispiel. Russland nutzt dieses Gebilde, um Einfluss auf die Republik Moldau auszuüben und den Prozess der europäischen Integration zu behindern. Die gleiche Strategie wurde auch in Georgien und später in der Ukraine verfolgt.

Als sich die Ukraine 2014 während der Besetzung der Krim gegen eine Zusammenarbeit mit Russland entschied, führte die sogenannte «Deeskalation» nur zu einer weiteren Invasion des Gebiets Donezk durch eine Gruppe russischer Agenten unter der Führung von Girkin (Strelkov).

Die Minsker Vereinbarungen von 2014 und 2015 brachten keine Ergebnisse, stattdessen folgte eine russische Invasion in der Ukraine. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Russland diesen Kurs aufgeben oder ändern wird, da es an diesem Muster festhält, das nun in der russischen Militärdoktrin expliziter dargelegt ist.

Daher dienen alle Forderungen nach einem «eingefrorenen Konflikt» lediglich der Verwirklichung der militärischen und politischen Ziele, die in der russischen Militärdoktrin festgelegt sind, und helfen Russland bei der Vorbereitung der nächsten Phase.

Abschliessend ist es angebracht, den berühmten Militärtheoretiker Carl von Clausewitz zu zitieren: «Der Aggressor ist immer friedliebend, er würde es vorziehen, unser Land ohne Gegenwehr zu übernehmen.»

Originalartikel: https://twitter.com/Tatarigami_UA/status/1722634361584193643

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