Auszüge aus der Reportage von Illia Ponomarenko, Kiew Independet (https://kyivindependent.com/)
Die städtischen Ruinen der Schlacht um Kiew bergen viele Geheimnisse. Irpin, eine Stadt nordwestlich der ukrainischen Hauptstadt, ist ein Schlachtfeld mit zerstörten Häusern, verkohlten Strassen und zerbrochenem Glas. Heute scheint es verlassen, wie in einer Flaute zu liegen. Doch unter den Trümmern lebt eine pulsierende Unterwelt.
Hier treffe ich Kämpfer, in wild zusammengestellten Uniformen mit dem blauen Band am Ellbogen. Sie tragen Matratzen, grosse Flaschen mit frischem Wasser und einfache Decken in einen Haushaltskeller. Dieser Ort war früher der Keller eines teuren Einfamilienhauses. Jetzt ist es eine spartanische Unterkunft für eine ukrainische Freiwilligeneinheit, die die Stadt gegen das russische Militär schützt.
«Denkt daran, Leute, wir müssen heute Nacht so viele Leute wie möglich hier unterbringen», sagt einer von ihnen. «Also bewegt bitte eure Ärsche und stellt eure Schlafplätze so nah wie möglich aneinander.» Im Keller schwirrt ein Gemisch aus Ukrainisch, Russisch, reinem und gebrochenem Englisch sowie anderen Sprachen, deren Fetzen für mein slawisches Ohr kaum zu erkennen sind.
Nicht jeder der Neuankömmlinge versteht den Befehl vollständig und bittet seine Kameraden um Übersetzung.
Wie so viele andere ukrainische paramilitärische Einheiten hat auch diese Dutzende von ausländischen Kämpfern aufgenommen. Die Palette der Legionäre ist breit gefächert – von der militärischen Elite von gestern bis hin zu unausgebildeten Träumern, die sich dem vielbeschworenen Kampf der Ukraine gegen die zweitgrößte Armee der Welt anschliessen wollen. Auf dem Schlachtfeld von Irpin erhalten sie alle eine Chance – und, was die ukrainischen Freiwilligenverbände betrifft – eine gleichberechtigte Stellung unter denjenigen, die die Mühsal des Krieges erleben.
Es ist nicht bekannt, wie viele ausländische Staatsangehörige derzeit für die Ukraine kämpfen. Aber ihre Rolle ist spürbar, vor allem bei den laufenden Kämpfen um Kiew. Nach dem Aufruf von Präsident Zelenskyj für die Bildung einer «Internationale Legion» hatten sich 20’000 Menschen aus 52 Ländern gemeldet. Im Kampf um Kiew sind vor allem Tschetschenen, Briten, Kanadier, Amerikaner, Georgier, Polen und Weissrussen aktiv. Einige haben sogar ihre eigenen nationalen Formationen, wie das weissrussische Bataillon von Kastuś Kalinoŭski.
Darunter hat es Männer mit militärischer Erfahrung und solche, die erst grundlegende Kampffähigkeiten lernen mussten.Es ist die Aufgabe der ukrainischen Ausbilder die neuen ausländischen und ukrainischen Soldaten zu schulen. Manchmal müssen sie dies in Kellern und teilweise beschädigten Häusern tun. In der Schlacht um Irpin bleibt keine Zeit für ausgefallene Übungsplätze.
«Wir haben einmal einen russischen BMP-Schützenpanzer mit diesem Ding erledigt, also passen Sie gut auf», sagt ein ukrainischer Ausbilder. Er montiert ein Browning M2-Maschinengewehr vom Kaliber 50. «Das Kaliber .50 BMG ist ein echtes Ding, dieses Gewehr hat eine Schussrate von fast 400 Schuss pro Minute und eine effektive Reichweite von bis zu 1.800 Metern», sagt der Ausbilder. «Gibt es jemanden, der das, was ich sage, ins Englische übersetzen kann?»
Einige haben einen starken militärischen Hintergrund. Zum Beispiel der Tscheche mit dem Codenamen «Wi-Fi». Er ist jung und fit, spricht nur ein paar Brocken Englisch und etwas ukrainisch: «Ich war fünf Jahre beim tschechischen Militär», sagt er und legt seinen AK-74-Putzstock an seinen Platz. «Die Hälfte meiner Familie stammt ursprünglich aus der Ukraine. Ich konnte nicht einfach zu Hause bleiben, wenn solche Dinge in der Ukraine passieren.»
Nach fast einem Monat heftiger Kämpfe ist Irpin, die einst ein blühender Vorort von Kiew war, schwer beschädigt und von den meisten Einwohnern verlassen. Zusammen mit Bucha und Hostomel und vielen anderen Städten und Ortschaften im Nordwesten hat sie den russischen Angriff auf die ukrainische Hauptstadt absorbiert und dabei wurden gemütlichen Wohnviertel geopfert.
Das gesamte Vorstadtgebiet nordwestlich von Kiew, ein wichtiger russischer Nachschubpunkt zwischen Weissrussland und Kiew, wurde in ein riesiges städtisches Schlachtfeld verwandelt und in Schutt und Asche gelegt.
Am 28. März erklärte der Bürgermeister von Irpin, Oleksandr Markushyn, die Stadt für vollständig von den russischen Streitkräften befreit. Nach Angaben der örtlichen Behörden sind jedoch fast die Hälfte von Irpin zerstört worden, darunter auch wichtige Infrastrukturen. Fast 500 Zivilisten und 50 ukrainische Kämpfer wurden in der Stadt durch russische Angriffe getötet.
Irpin bleibt für Zivilisten weiterhin streng abgeriegelt. Nach Angaben des Bürgermeisters dürfen die Einwohner noch mindestens einen Monat lang nicht in ihre Stadt zurückkehren, da in der Stadt gefährliche Blindgänger verstreut sind.
Die Rettungskräfte bergen Dutzende von Leichen – Zivilisten und Kämpfer – die auf den Strassen der Stadt verwesen.
Für viele ausländische Freiwillige war die Brutalität der Schlacht um Irpin ein schwerer Schock. Einige entschieden sich, den Zug nach Lemberg zu nehmen. Sie wollten gehen, nachdem was sie im Kampf erlebt hatten. Andere entschieden sich zu bleiben und weiterzumachen, trotz der emotionalen Belastung.
Stephen, ein Freiwilliger in den Fünfzigern aus Schottland, zeigt auf sein Schulterabzeichen mit der Aufschrift «Wer, wenn nicht wir» und sagt: «Vor einem Monat war ich noch ein Olivenfarmbesitzer, der zwischen Spanien und Grossbritannien hin und her pendelte. Aber dann habe ich in den Nachrichten gesehen, was Russland hier macht – Städte bombardieren, einfache Menschen töten. Das kann man einfach nicht machen, das ist so ähnlich wie das, was die Nazis im Zweiten Weltkrieg gemacht haben.»
Stephen geht zwischen den von russischer Artillerie zerstörten Häusern von Irpin umher und stolpert über Haufen von Glasscherben. «Innerhalb weniger Tage beschloss ich, alles hinter mir zu lassen und in die Ukraine zu kommen», sagt er. «Ich habe mich umgehört. Und hier bin ich nun, mit einem AK-Gewehr in der Hand. Und um ehrlich zu sein, ich bin glücklich».
Letzte Nacht erlebte er eine schwere Prüfung. «Guter Gott, ich hätte nicht gedacht, dass ich die letzte Nacht überleben würde. Die Russen haben unser Haus beschossen, und ich dachte, das wäre das Ende. Aber sieh nur – es ist ein neuer Morgen, und wir sind immer noch da!»