(Auszüge aus einer Reportage von Illia Ponomarenko und Kostyantyn Chernichkin von der Zeitung The Kiew Independent)
Das Schlachtfeld erstreckt sich durch den dichten Wald an den Ufern des Flusses Siverskij Donez. Soldaten der 79. ukrainischen Luftlandebrigade krabbeln aus sandigen Gräben und bereiten ihre 40-mm-Unterrohrgeschosse vor. Die feindliche Linie ist nur 300 Meter entfernt. Verborgen hinter einer Mauer hoher Kiefern.
«Drei, vier, Feuer!» Der darauf folgende Pfiff und die Explosion verschmelzen mit dem nicht enden wollenden Donnern des Artilleriefeuers auf beiden Seiten. «Diese Scheisskerle sollen wissen, dass wir noch hier sind und bereit», sagen die Fallschirmjäger. Hier, wie in anderen Teilen des Donbass, sehen die ukrainischen Kämpfer nur selten die Gesichter ihrer Feinde.
Die größte und blutigste Schlacht in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ist auch ein mörderisches Duell zwischen russischer und ukrainischer Artillerie. Russland ist in diesem Kampf zahlenmässig klar im Vorteil und sichert sich nach und nach seinen Vorsprung, indem es die ukrainischen Linien, die sich ihm in den Weg stellen, ausschaltet.
Die Entscheidungsschlacht dauert nun schon 40 Tage. Russland dringt langsam und mühsam durch die ukrainischen Verteidigungslinien und legt dabei Dörfer in Schutt und Asche.Angesichts der jüngsten Fortschritte Russlands erreicht die Lage in der Region einen kritischen Punkt. Trotz schwerer Verluste kämpft das ukrainische Militär weiter hart und versucht, die russischen Streitkräfte aufzureiben. Erstaunlicherweise ist die Moral der ukrainischen Truppen angesichts der Umstände nach wie vor hoch.
DER KRIEG AM FLUSS
Die 79. Luftlandebrigade hält die Stellung in den dicht bewaldeten Kiefernwäldern im Norden des Bezirks Donezk. Früher war das Gebiet ein im Sommer beliebter Ferienort. Heute schlafen in den Sommerlager-Häuser die müden Truppen. Die Urlaubshütten wurden zu Festungen umgebaut. Der Wald ist durchzogen mit Schützengräben.
Kleine Dörfer im Umkreis von mehreren Kilometern um die Frontlinie wurden inzwischen aufgegeben.
Wer die Kampfzone besucht, sieht zuerst ein Schild: «Willkommen in der Hölle». In russischer Schrift. Geschrieben auf einem Metallzaun, durchlöchert mit Schrapnellen. Dutzende von Uragan-Raketenschwänzen, die aus dem Boden ragen, verdeutlichen die Stimmung.
Ende Mai spitzte sich die erbitterte Schlacht im Donbass zu, als es Russland gelang, neue Reserven einzusetzen und den Druck auf die bereits dezimierten ukrainischen Streitkräfte zu erhöhen.
In den letzten Wochen hat Russland seine Achse in der Nähe der Stadt Izium aufgegeben. Neu konzentriert sich auf die Grenze der Regionen Donezk und Luhansk sowie am Nordufer des Flusses Siverskij Donez. Hinzu kommt die neue russische Taktik: Versucht wird nicht mehr, die ganze ukrainische Armee einzukesseln. Stattdessen werden kleinere Truppenteile isoliert und zerstört.
Nach über einem Monat stockender Offensiven ist es den russischen Streitkräften gelungen, im Südosten stetige Fortschritte zu erzielen. Sie haben die wichtige Fernstraße T1302 (Spitzname «Strasse des Lebens»), die die Zwillingsstädte Sievierodonetzk und Lysychansk im Gebiet Luhansk mit dem Gebiet Donezk verbindet, in ihre Gewalt gebracht. Russland hält nun die wichtigste ukrainische Nachschublinie unter Feuerschutz und droht, sie vollständig abzuschneiden.
Ein ständiger Angriff russischer Truppen aus dem Norden hat auch die erschöpften ukrainischen Verteidigungskräfte an die Ufer des Flusses Siverskij Donez gedrängt. Nach russischen Luftangriffen und einem massiven Artilleriebeschuss auf Lyman mussten sich die ukrainischen Kräfte wieder nach Süden zurückziehen. Die ständigen Versuche Russlands, den Fluss zu überqueren und sich mit der Popasna-Achse zu vereinigen, lassen befürchten, dass eine große ukrainische Gruppe in Sievierodonetzk-Lysychansk abgeschnitten wird.
Die jüngsten Entwicklungen deuten jedoch darauf hin, dass die ukrainische Führung beschlossen hat, die Garnison von Sievierodonetzk zu verstärken, anstatt sich zurückzuziehen. Russland muss mehr als 20 Kilometer an Kämpfen überstehen, um die Tasche zu schließen.Große ukrainische Truppen, darunter auch die 79. Luftlandeeinheit, halten die Verteidigung in den Wäldern von Siverskij Donez aufrecht, die den Nationalen Naturpark Heilige Berge bilden, und kämpfen hart, um die russischen Truppen am Überqueren des Flusses zu hindern.
BRENNENDER HIMMEL
Die Gräben der Panzerabwehreinheit der 79. verfügen über ein umfangreiches Arsenal an Panzerabwehrwaffen aus westlicher Produktion.Schwedische 84 mm AT4, amerikanische M141 (SMAW-D), die weit verbreiteten britischen NLAW und die selteneren RGW-90 MATADOR lehnen an den Grabenwänden neben Maschinengewehren, die auf den tiefen Wald gerichtet sind.
«Ein großes Dankeschön an die Steuerzahler, die uns dieses Spielzeug zur Verfügung gestellt haben», lachen die Fallschirmjäger. «In diesem Wald gibt es viele zerstörte russische Fahrzeuge, falls jemand einen illustrierten Kosten-Leistungs-Bericht haben möchte.»
Das Artilleriefeuer an den Flanken hört unterdessen nicht auf.Alle 10 bis 15 Minuten wird der Artilleriedonner so intensiv, dass selbst die kampferprobtesten Truppen in Alarmbereitschaft sind. Die russischen BM-21-Gran-Raketensysteme donnern unaufhörlich und beschiessen die entfernten ukrainischen Linien. «Das ist noch gar nichts»» sagen die Soldaten. «In der Nacht ist der Himmel hier manchmal wegen der Artillerie hell erleuchtet.»
BLUT IM TRANSPORTER
Die Zeit vergeht langsam. Jede vierstündige Gefechtsschicht findet hinter Maschinengewehren statt, mit Zigaretten in der Hand, schweigend, sich endlos anstrengend, um einen Blick auf mögliche Feinde in der Ferne zu erhaschen.Die Truppen, die Feierabend haben, können endlich in die verlassenen Keller zurückkehren, wo sie sich mit billigem Kaffee, Fleischkonserven und hoffentlich ein paar Stunden Schlaf auf einer Matratze in einer dunklen Ecke mit Kopfhörern versorgt sind.
Selbst in den hinteren Unterkünften halten die Soldaten ihre Gewehre griffbereit, manchmal sogar an die Brust gepresst, wenn sie ein Nickerchen machen.
«Ihr habt diesen riesigen rostigen Flecken auf dem Boden meines Ford Pickups gesehen», sagt ein stellvertretender Bataillonsführer, während er in der Dunkelheit heißen Nescafe aus einem Plastikbecher schlürft und raucht. «Nun, das ist kein Rost. Es ist das Blut eines russischen Soldaten. Wir haben ihn neulich mitgenommen, als ein russischer Trupp versucht hat, uns hier in der Nacht anzugreifen. Sie dachten, wir wären eine Alpha-Spetznaz-Gruppe oder so etwas und sind abgehauen.
Sie ließen diesen jungen Kerl zurück, verletzt.» «Wir haben versucht, mit ihm zu reden. Er war 20, vielleicht 21. Er konnte nur sagen, dass er Vadim heißt, bei der 15. motorisierten Schützenbrigade der Garde dient und dass die Hauptaufgabe seiner Einheit in diesem Gebiet darin besteht, sich zu verschanzen und abzuwarten.»«Das war’s dann aber auch schon – er ist in meinem Wagen gestorben, als ich versucht habe, ihn zu evakuieren.»
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