DIE ENTSCHEIDENDE WAHL

An diesem Sonntagabend wird um 20 Uhr in ersten Umrissen bekannt, wie die zukünftigen Mehrheitsverhältnisse im französischen Parlament sind und damit die politische Macht verteilt ist. Die siegessicheren Rechtsextremisten könnten dabei eine Überraschung erleben. (Ein etwas längerer Text von mir, Mario Aldrovandi).

Alles was Rang, Namen und Anstand hat in Frankreich, warnt vor dem rechtsextremen Front National/Rassemblement National (RN). Dazu gehören 20 der letzten Überlebenden des Nazi-Holocaust, die vor dem Anti-Semitismus der RN warnen; Dazu gehört Anne Sinclair, Ex-Frau des damaligen IWF-Chefs Dominique Strauss-Kahn und Ikone des französischen Journalismus die vor der Einschränkung der Meinungsfreiheit warnt; Dazu gehört die Feministin Caroline Fourest, Chefredaktorin des «Franc Tireur» und Buchautorin (unter anderem «Generation beleidigt»), die seit Jahren vor dem Rassismus, der Russlandabhängigkeit und der Untergrabung der demokratischen Institutionen durch den RN warnt.

Der Medien-Pate der Rechtsextremen

Die Warner treten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auf. Und gleichzeitig wir ihnen beschieden, dass ihre Stimmen nicht gehört werden von den RN-Wählern, also der rund 33% der Französinnen und Franzosen. Diese Wähler schauen lieber die Sender C-News oder C-8, finanziert vom Milliardär Vincent Bolloré, dem publizistischen Paten der Rechtsextremen. Bolloré ist Besitzer der Mediengruppe Vivendi und dazu gehören der Radiosender Europe 1, Paris Match, Le Journal du Dimanche und die Fernsehgruppe «Canal».

Beschmutztes Erbe von Jean Jaurès

Szenenwechsel: Jean Jaurès ist so etwas wie der historische Übervater der französischen Linken. Kriegsgegner des 1.Weltkrieges und von einem Nationalisten deswegen erschossen; Vertreter der Trennung von Kirche und Staat und Förderer der Laizität in den Schulen; Führer der Stahlarbeiter von Albi und der Mineure von Carmaux im Departement Tarn. In seiner Region ist man stolz auf den Mitgründer der Sozialistischen Partei und Gründer der Zeitung «L’Humanité».

Hier im Südwesten Frankreich hat jedes Dorf und jede Kleinstadt mindestens eine Strasse, meist einen Platz, angeschrieben mit «Jean Jaurès». Und seit 1900 wählten die Menschen in Carmaux und Albi links.

Linke Hochburgen fallen

Und jetzt, im Jahr 2024, fällt die sozialistische Hochburg. Im ersten Durchgang holte ein Vertreter des rechten Flügels der «Republikaner» in den zehn Wahlbüros von Carmaux die Mehrheit der Stimmen. Bei diesem RN-Verbündeten handelt es sich um einen blutjungen, glitschig glatten Mann, der in Paris geboren ist. Er liess die Sozialistin und dem Vertreter der Mitte in diesem Wahlkreis weit hinter sich. Die Chancen, dass der Rechtsextreme im zweiten Wahlgang definitiv den Sitz in der linken Hochburg erobert, sind sehr gross.

Andere linke Hochburger, die reihenweise gefallen sind, befinden sich im Norden des Landes. Die Rede ist von ehemalige Minen-Städten in denen 25% der Menschen unter der Armutsgrenze leben. Dort, wo die PCF (Kommunistische Partei Frankreich) viele Bürgermeister stellt, feiert die rechten Extremisten nun Sieg um Sieg und der PCF-Chef überstand den ersten Wahlgang nicht.

Umstrittene RN-Kandidaten

Von den rund 400 Kandidaten, welche der RN in den zweiten Wahlgang schickt, sind mindestens 80 umstritten. Dabei handelt es sich um rassistische Aussagen oder um ganz banale Inkompetenz. Die Biografie von fünf unter ihnen gab in dieser Woche zu reden. Ein Kandidat steht unter umfassender Vormundschaft, aber das Amt kann ihm nach Gesetz erst nach der Wahl entzogen werden. Eine Kandidatin ist wegen Geiselnahme und Waffengewalt vorbestraft. Eine andere Kandidatin liess sich in dieser Woche mit einem Militärhelm der deutschen SS abbilden und eine Kandidatin behauptete in einem Video, dass sie keine Rassistin sei, schliesslich sei ihr Zahnarzt ein Moslem und ihr Chiropraktiker ein Jude.

Bardella: blamiert und doch beliebt

Der Attraktivität des RN tut das keinen Abbruch. Auch nicht, wenn sich Jordan Bardella in der meistgesehenen TV-Sendung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bis auf die Knochen blamiert. So sagte er dort, dass seine Partei für ein Pensionsalter von 60 Jahren sei. Danach rechnete er vor, dass gemäss seinem Programm eine Person, die mit 24 Jahren ins Berufsleben eintritt, noch 42 Jahre arbeiten muss, um eine volle Rente zu erhalten.

Er wollte damit belegen, dass seine Partei viel sozialer als die Regierung Macron sei. Dazu ein Detail: Die umstrittene Rentenreform der Regierung legte das maximale Pensionierungsalter auf 64 Jahre fest.

Le pouvoir d’achat

Erklärversuche für den Erfolg von Marine LePen und von dessen politischem Ziehsohn Jordan Bardella gibt es viele. Anerkannt ist, dass die RN-Forderung nach mehr «Kaufkraft» oder wie das hier heisst «le pouvoir d’achat», neben der Enttäuschung über Macrons Politik, der Haupterfolgsfaktor für ihre Erfolge sind. LePen/Bardella versprechen, die Mehrwertsteuer auf Energie von 20% auf 5% zu senken, die Preise von Gütern des täglichen Bedarfs einzufrieden und weitere Wunschträume. Dass diese Vorstellungen zum Teil rechtswidrig sind, sich aber auf jeden Fall nicht finanzieren lassen, interessiert nicht.

Je weniger Diplome umso mehr Stimmen

Nun hat eine neue soziologische Untersuchung ein weiteres Element für den Erfolg des RN ans Tageslicht gebracht: Je weniger Diplome ein Wähler hat, umso eher wählt er die Rechtsextremen. Weniger Diplome heisst nicht «dümmer», sondern dass die Mehrheit in der zunehmend ungleichen französischen Schule nicht die Diplome erreicht, welche Absolventen von Privatschulen massenhaft einsammeln.

Die weniger Diplomierten wehren sich gemäss dieser Untersuchung gegen die «Elite», zu der sie nie gehören werden. Dies habe sich schon bei den Gilet Jaune Protesten gezeigt und nun bei dieser Wahl.

Macrons historischer Fehler

Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron wird in die Geschichte eingehen, als derjenige, der der rechtsextremen Partei die Türe zur Macht aufgestossen hat. Damit hat er sich und seine Bewegung politisch beerdigt.

Macron hat seinen Entscheid für die Auflösung der Nationalversammlung, des Parlaments, ohne Absprache mit seinen politischen Partnern entschieden. Auch das nehmen diese ihm übel. Nochmals verschlimmert hat diese Woche der stolze Vater, Jean-Michel Macron, die Situation: Natürlich habe sein Sohn habe mit ihm über diesen historischen Entscheid geredet.

Macron ist weg vom Fenster

Seit dem Auflösungsentscheid und dem miesen Resultat des ersten Wahlgangs wird Macron wie ein Aussätziger gemieden. Niemand will sich mit ihm sehen lassen und Macron versteckt sich vor der Öffentlichkeit. Es gibt keinen einzigen nationalen und – was er besonders liebt – internationalen Auftritt des Redegewandten.

Er würde auf jeden Fall Präsident des Landes bis 2027 bleiben. Das sagte Macron noch vor dem ersten Wahlgang. Ob er dieses Versprechen einhält, ist offen. Für Frankreich wäre es besser, wenn er bliebe. Das gäbe zumindest einen kleinen Garantie für eine ausgleichende Macht zu dem wie auch immer zusammengesetzten Parlament.

Ansprüche an die absolute Macht

Der 28-jährige Jordan Bardella, ein Mann ohneirgendeine Berufserfahrung, sah sich lange als Ministerpräsident und kündigte das auf den Plakaten an. Nach dem ersten Wahlgang hiess es noch, dass dies durchaus möglich sei.

Er macht Druck auf die Wähler: Nur mit einer absoluten Parlamentsmehrheit würde er in den Regierungspalast einziehen.

Nun gibt es dazu zwei sich scheinbar widersprechende Umfragen des Meinungsforschungsinstituts IPSOS, das für seine punktgenauen Prognosen und Analysen bekannt ist.

Die eine Umfrage sagte Anfang der Woche, dass mehr als 50% der französischen Wähler sich wünschen, dass Bardella Ministerpräsident mit einer absoluten Mehrheit wird. So könne er zeigen, was das Programm seiner Partei tauge.

Demgegenüber sagt eine IPSOS-Analyse der Ausgangslage in allen Wahlkreisen von Freitag, dass der RN und seine Alliierten zwischen 175 und 205 Sitze in der Nationalversammlung erreichen. Damit wäre die Gruppe zwar die stärkste im Parlament, aber weit von der absoluten Mehrheit von 289 Sitzen entfernt. Natürlich wäre das trotzdem ein Grosserfolg, denn aktuell haben die Rechtsextremen 89 Sitze.

«Front machen» sagt die linke Front populaire

Bei der aus Sozialdemokraten, Sozialisten, Linksradikalen, Kommunisten und Umweltschützern zusammengesetzten «Nouveau Front populaire» behaupten nur wenige dass sie ebenfalls die absolute Mehrheit erreichen wollen. Vernünftigere Kräfte in diesem Bündnis wissen, dass das rechnerisch nicht erreichbar ist. Beide Flügel aber sind sich in einer Sache einig: Sie machen Front gegen die rechtextreme Welle und fordern «keine Stimme» an den RN und seine Verbündeten.

Gemäss der IPSOS Umfrage könnte dieses linke Bündnis 145 bis 175 Sitze erreichen und damit gegenüber den aktuellen 133 Sitzen etwas vorankommen.

Mitte wird zermalmt

Macrons Regierungsbündnis, ein Zusammenschluss von drei verschiedenen Parteien aus der liberalen Mitte, wird am Sonntag auf jeden Fall ein Waterloo erleben. Wo vorher noch 245 Parlamentarier waren, werden es in Zukunft – gemäss IPSOS – noch 118 bis 148 sein. Macrons Repräsentanz wird also praktisch halbiert.

Auch die konservativen Republikaner, die sich ebenfalls zwischen den beiden Blöcken positionieren, werden zu den Verlierern gehören, aber weniger bluten, als die Macronisten. Sie werden  57 bis 67 Sitze behalten. Bisher waren es 74.

Das Ende der fünften Republik

Als General De Gaulle nach einem politischen Exil am 13.Mai 1958 an die Macht zurückkehrte, hatte er es eilig mit einer neuen Verfassung. Diese sollte der parlamentarischen Unsicherheit ein Ende bereiten. Statt wechselnde Bündnisse im Parlament und einer schwachen Regierung, wollte er einen starken Königsgleichen Präsidenten installieren und ein schwaches, dem Präsidenten unterstelltes Parlament. Dieses Konstrukt ging als 5.Republik in die Geschichte ein und hat bis heute Bestand.

Nach diesem Sonntag dürfte es damit vorbei sein. Statt einen starken Präsidenten und einem ihm unterstellten Parlament wird es einen schwachen Präsidenten und ein in mindestens 4 Fraktionen zersplittertes Parlament geben und damit das Ende der 5.Republik.

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