(Ein längerer Text in der Hoffnung, damit oberflächlichen Schlagzeilen den Boden zu entziehen).
An diesem Sonntag findet die erste Runde der vorgezogenen französischen Parlamentswahlen statt. Dabei stehen viele Französinnen und Franzosen vor einer qualvollen Wahl. Sollen sie den von Radikalen dominierten linken Block wählen, die rechtsextremen Partei «RN» oder die unbeliebte Mitte.
Beispiel: Departement Tarn im Süden Frankreich, 1. Wahlkreis, wo ich mich zurzeit befinde. Vor den Wählern liegen drei Wahlzettel:
Ein Vertreter der offen fremdenfeindlichen, nationalistischen Partei «Rassemblement National / Front National» (RN), die mehrere zehntausend Euro Schulden bei einer Putin-Bank hat.
Auf dem zweiten Wahlzettel steht der Name einer Vertreterin des «Nouveau Front Populaire» /Neue Volksfront (NFP), einem Bündnis von Sozialisten, Kommunisten, Umweltschützern und dominiert von der linksradikalen LFI (La France Insoumise / Unbeugsames Frankreich).
Und mit dem dritten Wahlzettel bewirbt sich der ehemalige Bürgermeister des Department Hauptorts, unterstützt vom liberalen Zentrum-Block. Er ist ein Kandidat, der sich zum landesweit unbeliebten Emmanuel Macron bekennt, aber vermeidet, seinen Namen oder Foto abzubilden.
Miserable Stimmung
Eigentlich standen die Wähler auch 2022 vor der Wahl zwischen den drei Blöcken. Aber damals war die Stimmung im Land nicht so schlecht wie heute.
Vorgesehen war dieses Jahr ein schöner Sommer in Frankreich mit Sommerolympiade Paris 2024 im Zentrum. Doch 28 Tage vor der Eröffnungsfeier beschreiben drei Begriffe den Zustand der Franzosen: «Müdigkeit» bei 89%, «Ängstlichkeit» bei 84% und «Verlorenheit» bei 83%.
Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage und sie wird auf allen Plattformen in TV, Radio und Internet in französischer Heftigkeit diskutiert. Aber niemand widerspricht.
Macron ist an allem Schuld
Verantwortlich dafür gemacht wird ein Mensch: Emmanuel Macron, Präsident der Französischen Republik. Einerseits wegen seiner Politik in den letzten sieben Jahren und anderseits wegen seiner Auflösung des Parlaments, die er vor 2 ½ Wochen entschied
2022 stellte sein Regierungsblock die stärkste Parlamentsfraktion mit 245 der 577 Sitze. Das linke Bündnis erreichte 131 Sitzen und das rechtsextreme «Rassemblement National» stellte 89 Vertreter.
Seither sind die Beliebtheitswerte von Macron kontinuierlich gesunken, ohne dass jemand schlüssig erklären kann, was der Staatspräsident falsch machte. Die Arbeitslosenwerte befinden sich auf einem Rekordtief und die Wirtschaft boomt.
Gleichzeitig gelang die Rentenreform und die Ausländergesetzgebung wurde modernisiert. Aber bei diesen Reformen war jeweils eine Hälfte der Bevölkerung unzufrieden, und zwar immer die andere Hälfte, was für Macron eine fast hundertprozentige Ablehnung zur Folge hat. Hinzu kommen regelmässig wiederholte Anwürfe wir «Arroganz» und «Abgehobenheit».
Macron bleibt so oder so
Die Wahl eines neuen Parlaments ist dieses Mal so wichtig, wie sonst nur die Wahl des Präsidenten.
Das ist normalerweise nicht so. Traditionell wird in Frankreich zuerst ein Präsident gewählt und zwei Monate später das Parlament, das meistens die gleichen Mehrheitsverhältnisse abbildet, wie bei der Präsidentenwahl. Das heisst, gewöhnlich erhält der neu gewählte Präsident im Parlament eine Mehrheit und mit dieser kann er seine Politik 1:1 umsetzen. So sieht es die Verfassung der «Fünften Republik» vor.
Dieses Mal ist es mit grosser Wahrscheinlichkeit anders und trotzdem sagte Emmanuel Macron, er werden bis 2027 Präsident bleiben, unabhängig vom Resultat der Parlamentswahl an diesem und am nächsten Wochenende.
Das hat er kurz nach der Auflösung des Parlaments betont. Nur ist diesen Mal die Wahrscheinlichkeit, dass er genug Unterstützung im Parlament erreicht, sehr klein.
Das ungewöhnliche Wahlsystem Frankreichs
Das französische Wahlsystem für das Parlament ist einzigartig. In der Schweiz werden in einem Wahlgang in jedem Kanton Parteien gewählt. Gemäss Wahlerfolg können diese Parteien eine bestimmte Anzahl Politiker ins Parlament delegieren, und zwar jene, die bei ihnen am meisten Stimmen erreichen.
In Frankreich läuft das ganz anders: Hier gibt es 570 Wahlkreise. Jeder Wahlkreis schickt genau einen Vertreter oder eine Vertreterin ins nationale Parlament.
Im ersten Wahlgang treten eine unbestimmte Anzahl Kandidaten an, gewöhnlich einer pro Partei. Wer das absolute Mehr erreicht, also mehr als 50.0% Stimmen erhält, ist sofort gewählt.
Ansonsten treten in einem zweiten Wahlgang nur noch jene 2 bis 4 Kandidaten an, welche mindestens 25% der Stimmen im ersten Wahlgang erreicht haben. Nach diesem zweiten Wahlgang kommt ins Parlament, wer am meisten Stimmen macht.
«Alles gegen Rechtsextrem» gilt nicht mehr
Bis vor den letzten Wahlen gab es eine gemeinsame Haltung aller nicht rechtsextremen, nicht rassistischen Parteien, die «Front républicain».
Das bedeutete: Alle politischen Kräfte sammelten sich hinter jenem Politiker für den zweiten Wahlgang, der in einer direkten Auseinandersetzung mit dem Kandidaten des «Front National» war. Die Sozialisten schluckten also einen bürgerlichen Kandidaten und umgekehrt mit dem Ziel, die Rechtsextremen am Einzug ins Parlament zu hindern.
Als Folge davon, war der «Front National» von 2017 – 2022 mit nur 7 Vertretern im 570-köpfigen Parlament eine extreme Minderheit, obwohl sie 15% der Stimmen erreichte. Weil vor 2 Jahren im zweiten Wahlgang diese Haltung der «Front républicain» fast im ganzen Land auseinanderbrach, schaffte es der «Front National/Rassemblement National» auf einen Schlag auf 87 Abgeordnete.
Aus der Sicht eines Beobachters des relativ gerechten Mehrheitswahlsystems verfälschte die «Front républicain» den Volkswillen und die heutigen Parlamentsverhältnisse bilden eher die politische Realität im Land ab.
Der 1.Wahlgang ist ein Stimmungstest
Wenn an diesem Sonntagabend die Ergebnisse bekannt werden, ist das kein Hinweis auf die spätere parlamentarische Zusammensetzung und es sagt auch nichts darüber aus, wer Frankreichs Regierung stellen wird. Aber die Zahlen geben einen Hinweis auf die politische Stimmung. Sie werden Zahlen zu vergleichen sein mit dem ersten Wahlgang der Parlamentswahlen vor 2 Jahren.
Damals erreichte der Macron-Block 25,75 Prozent der Stimmen. Die Allianz aus Linken, Kommunisten, Grünen und Sozialisten wählten 25,66 Prozent der Wählerinnen und Wähler. Drittstärkste Kraft war der rechtsextreme «Rassemblement National/(RN)» mit 18,7 Prozent der Stimmen.
Aktuelle Meinungsumfragen stellen das komplett auf den Kopf: Die Rechtsextremen erreichen da 35%, das Linksbündnis 28%, der Macron-Block 20% und die bürgerlichen «Républicains» 8%.
Hohe Stimmbeteiligung erwartet
Weil der erste und der zweite Wahlgang in die Sommerferien fallen, suchten viele Stimmbürger einen Stellvertreter für ihre Stimmabgabe. Mit über 2 Millionen «Stellvertretungen» wurde ein Rekordwert erreicht.
Meinungsforscher schätzen die Wahlbeteiligung auf 64 – 65%. Das wären über 15% mehr als noch vor zwei Jahren.
Warnung vor einem «Bürgerkrieg»
Der linke und der rechte Block mobilisieren für ihre Kandidaten und fordern für sich die kommende Regierung zu stellen und einen Ministerpräsidenten ihrer Partei, welcher der Staatspräsident zu akzeptieren habe.
Die Parteien, die sich für die bisherige Regierung einsetzen mobilisieren ebenfalls mit grossem Aufwand für ihren «Kampf gegen die Extreme».
Und Emmanuel Macron befeuerte diese Diskussion, indem er in einem Interview mehrfach und betont das Wort «Guerre civile» / Bürgerkrieg verwendete, sollte einer der beiden Extreme die Mehrheit erreichen.