Die Nationalisten und Rassisten haben in Frankreich an diesem Sonntag bei den Europawahlen 37.1% der Stimmen erreicht. Geschockt von diesem Resultat hat Staatspräsident Emmanuel Macron das Parlament mit sofortiger Wirkung aufgelöst. Ende des Monats und Anfang Juli gibt es Neuwahlen. Ein Blick zurück und einer nach vorn von mir, verbunden mit einer Analyse.
Jordan Bardella, der Führer der nationalistischen Partei RN («Rassemblement National»/«Front National») von Marine LePen trägt bei seinen Auftritten einen akkuraten Haarschnitt wie die Neonazis in Deutschland und immer eine schwarze Krawatte. Bei den Europawahlen 2024 haben LePen/Bardella in 32’000 Gemeinden von Frankreich das beste Resultat erzielt. In der Französischen Republik gibt es 34’955 Gemeinden.
ERFOLGREICHE NATIONALISTEN UND RASSISTEN
Die Wahlkarte 2024 ist fast so schwarz wie die Krawatte von Bardella. Diese Tendenz hat sich in den letzten 10 Jahren bei den drei Europawahlen verstärkt. (Siehe Grafik).
Die rechtsradikale Tendenz in Frankreich kommt in zwei Zahlen und mit zwei Personen mit Migrationshintergrund zum Ausdruck:
1. Die nationalistische RN konnte sich gegenüber den letzten Europa-Wahlen im Jahr 2019 um 34.8% steigern, von 23.3% auf 31.4% Wähleranteil. Bei diesen Wahlen trat der seit eineinhalb Jahr als Präsident eingesetzte Jordan Bardella als Zugpferd für die Bewegung auf. Bardella stammt aus einer italienisch-algerischen Einwandererfamilie und wuchs in einem sogenannten «Problemquartier» in der Nähe von Paris auf.
2. Die rassistische Bewegung «Reconquête» von Éric Zemmour («Jeder Franzose sollte einen französischen Vornamen haben») erreichte 5.5%. Der aus einer jüdischen Familie mit algerischem Migrationshintergrund stammende und zweifach vorbestrafte Politiker, schickte bei diesen Wahlen Marion Maréchal – Le Pen vor. Sie ist die Nichte von Marine Le Pen, mit der sie sich zerstritten hat und marschiert politisch in den Fussstapfen ihres faschistischen Grossvaters Jean-Marie LePen.
BÜRGERLICHE PARTEIEN ZERSTÖRT
Die einst grosse Partei «Les Républicains» erreichte gestern noch 7.3% der Stimmen. Sie verlor damit im Vergleich zu den Wahlen 2014 Zweidrittel.
In dieser Partei sind die Flügelkämpfe zwischen regierungsnahen Politikern und den Sympathisanten von LePen/Zemmour so ausgeprägt, dass sie für viele nicht mehr wählbar ist.
Hinzu kommen die Skandale um gerichtsnotirische Fälle wie Ex-Präsident Nicolas Sarkozy oder Ex-Präsidentschaftskandidat Francois Fillon.
DESASTER DE REGIERUNGSPARTEI
Staatspräsident Emmanuel Macron, einst Gründer der Bewegung «En Marche», die heute «Renaissance» heisst, wird in Frankreich für alles verantwortlich gemacht, was schief läuft.
Seine Partei bekam das unmittelbar zu spüren. Sie ist dieses Jahr wie schon 2019 auf dem zweiten Platz. Mit zwei wesentlichen Unterschieden:
Erstens hatte sie damals noch 22,4 Prozent der Stimmen erreicht und dieses Jahr nur noch 14.6%, also ein Drittel weniger.
Und zweitens lag sie 2019 nur 0,9% hinter der LePen-Partei. Heute beträgt der Abstand zu den Nationalisten 16.8%.
GRÜN GESCHLAGEN – LINKS GESTÄRKT
Die Grünen – in Frankreich «Ecolos» genannt – erreichten vor 5 Jahren noch 13.5%. Jetzt sind es noch 5,5%. Ihr Niedergang zeichnete sich ab, trotz immer mehr sicht- und spürbaren Umweltveränderungen.
Bei den letzten Wahlen für das nationale Parlament vor 2 Jahren konnten sie diesen Niedergang noch verstecken, denn sie traten als Teil der NUPES auf, einer gemeinsamen Plattform von Grünen, Sozialisten, Linksextremen und Kommunisten.
Das Ende der NUPES hatte der Führer der linksextremen Bewegung «La France insoumise» (unbeugsames Frankreich) Jean-Luc Mélenchon provoziert. Seine permanente Hetze gegen Israel, seine Weigerung sich vom Terror der Hamas zu distanzieren und seine permanente Kritik an der Polizeiarbeit, hat die anderen Parteien zum Austritt aus der NUPES gebracht.
Mélenchons Partei scheint darunter nicht gelitten zu haben. Sie erhielt 9.9% Wählanteil. Das sei ein Zuwachs von mehr als 50% jubelten am Sonntagabend die Anhänger der «Insoumise».
Wirklichen Grund zum Jubeln haben auf der linken Seite allerdings nur die Sozialisten. Diese Partei, die nach der Amtszeit des französischen Präsidenten François Hollande als «klinisch tot» bezeichnet wurde, erreichte 2019 nur 6.2% der Stimmen bei den Europa-Wahlen. Dieses Mal sind es mit 13,8% mehr als doppelt so viele.
Verantwortlich dafür ist Raphaël Glucksmann, ein Journalist, Dokumentarfilmer und Europa-Politiker. Ihm gelang es, der darniederliegenden Partei wieder Leben einzuhauchen, indem er sich klar für Europa positionierte, sich auf die Seite der Ukraine stelle und die finanzielle Abhängigkeit der Bardella/LePen Partei von Moskau demaskierte.
MACRON ZIEHT DEN STECKER
Die Europa-Wahlkampagne von LePen/Bardella hatte eine Leitlinie: «Dies ist der Moment, in dem sie als Wähler ihre Unzufriedenheit mit der Regierung zum Ausdruck bringen können». Diese Botschaft wurde am TV täglich und auf den Plakaten allerorten wiederholt.
Die Regierungspartei von Emmanuel Macron versuchte vergeblich darauf hinzuweisen, dass es um Europa und das Europa-Parlament ging und nicht um eine inländische Wahl.
Nach der Bekanntgabe des Resultats forderte Bardella sofort die Auflösung des französischen Parlaments, denn die Regierung habe keinen Kredit mehr beim Volk.
Dass Emmanuel Macron wenige Minuten später genau dieser Forderung nachgab, überraschte allgemein und dominiert die Schlagzeilen aller Nachrichten.
Macron sagte in seiner TV-Ansprache: «Ich habe beschlossen, Ihnen die Wahl unserer parlamentarischen Zukunft durch die Abstimmung zurückzugeben, ich löse heute Abend die Nationalversammlung auf». Einen solchen Donnerschlag gab es letztmals 1997. Damals war die Auflösung des Parlaments eine Reaktion des damaligen bürgerlichen Präsidenten Jacques Chirac auf den Erfolg der Sozialisten.
DAS GROSSE RÄTSELRATEN
Zurzeit sind alle Sorten Fachleute am Rätseln, was Emmanuel Macron zu diesem Schritt bewogen hat. Es dominiert die These, dass dies sein letzter Versuch ist, die Regierung zu retten durch ein Bündnis aller «vernünftigen Kräfte».
Tatsächlich gibt es auf der relativ erfolgreichen linken Seite Gedankenspiele für eine Wiederbelebung der NUPES, also des gescheiterten Bündnisses von Linksextremen, Kommunisten, Sozialisten und Grünen.
Andere Politiker denken einen Schritt weiter und reden von einer «Front populaire», also einer «Volksfront», welche alle Kräfte bis weit ins bürgerliche Lager hinein vereinen soll.
Dabei werden historische Parallelen gezogen mit Mitte der 30-er Jahren des letzten Jahrhunderts als eine solche Volksfront, die sogenannte «Front Léon Blum», gegen den aufkommenden Faschismus gegründet wurde.
Und dabei könnte – aber das ist natürlich nur eine weitere These, dieses Mal von mir – ein heute sehr beliebter französischer Philosoph eine Rolle spielen. Sein Name ist Michel Onfray. Er betreibt seit 2020 die Webseite https://frontpopulaire.fr/ und veröffentlicht regelmässig ein Magazin mit dem Namen «Front populaire».
In dieser Front versammelt sein sollen, so Michel Onfray: «Alle konsequenten Demokraten, von links, rechts, nirgends und anderswo».