Ukraine Aktuell Nr. 436 (5.5.23/8Uhr)

EIN BLICK ZURÜCK VOR DER GROSSEN OFFENSIVE

Anna Myroniuk ist eine ausgezeichnete Journalistin und die Leiterin des Investitionsteam des Medium «The Kyiv Independent». Sie schildert aus persönlicher Sicht, was der Krieg Russlands gegen die Ukraine für sie bedeutet.

Am 1. Mai legte ich Blumen am Sarg meines ehemaligen Kollegen, des zum Soldaten gewordenen Journalisten Oleksandr Bondarenko, nieder. Er war einige Tage zuvor an der Front in der Nähe von Kreminna in der Oblast Luhansk getötet worden.

Wir arbeiteten 2014 kurzzeitig beim Nachrichtenbulletin eines beliebten ukrainischen Fernsehsenders zusammen. Ich war damals ein Nachwuchsreporterin und habe ihn als erfahrenen und professionellen Reporter immer mit Bewunderung betrachtet.

Bondarenko stammt ursprünglich aus Luhansk, das Russland 2014 illegal besetzt hatte. Er meldete sich freiwillig zum ukrainischen Militär, als Russland im Februar letzten Jahres seinen totalen Krieg auslöste.

Das tat auch mein ehemaliger Partner Oleksandr Makhov. Auch er war Journalist und gebürtig aus Luhansk. Er schloss sich der Armee an und wurde am 4. Mai 2022 in der Nähe von Izium im Gebiet Charkiw getötet. Gestern habe ich anlässlich seines ersten Todestages Blumen an seinem Grab niedergelegt.

Ich kannte Makhov seit fast 10 Jahren. Davon waren wir zwei Jahre lang zusammen. Er bedeutete mir sehr viel; laut und intelligent, wie er war.

Russland nimmt mir immer wieder geliebte Menschen, Freunde und Kollegen weg. Ich habe sieben von ihnen durch Russlands Krieg verloren, und ich kann nicht anders, als mich zu fragen: Wie viele noch, und wer ist der Nächste?

Während die EU-Mitgliedstaaten um die gemeinsame Beschaffung von Munition für die Ukraine ringen, die sich auf ihre lang erwartete Gegenoffensive vorbereitet, denke ich über den menschlichen Tribut nach, den sie fordern wird.

Die Gleichung lautet wie folgt: Je mehr Munition die Ukraine hat, desto mehr Soldatenleben werden gerettet.

Die Angreifer haben in der Regel viel höhere Verluste als die Verteidiger und benötigen mindestens dreimal so viele Truppen wie der Gegner und viel mehr Munition. Verzögerungen bei der Versorgung mit Munition werden in Menschenleben gemessen.

Ich möchte, dass hochrangige Entscheidungsträger daran denken, dass die Ukraine ihre Menschen verliert – und ich meine Freunde und Kollegen -, wenn es ihnen nicht gelingt, Einigkeit bei der Beschaffung von Munition und Waffenlieferungen zu erzielen.

WAFFEN UND MUNITION RETTEN LEBEN

Der tschechische Präsident Petr Pavel sagte kürzlich, dass die Ukraine nur eine einzige Chance für eine grössere Gegenoffensive haben wird, da es schwierig sein wird, «das derzeitige Niveau der Unterstützung aufrechtzuerhalten». Wenn dies zutrifft, sollten sich die europäischen Politiker verpflichten, ihre Verhandlungen zu beschleunigen.

Wenn Sie als führender Politiker der Welt nicht verstehen, warum Sie sich beeilen sollten, denken Sie an die Massengräber, die nach der Befreiung von Buka, Borodianka und Izium enthüllt wurden. Folter, Vergewaltigung und Mord – das ist es, was die Ukrainer in den von Russland besetzten Gebieten erleiden.

Die Rettung ihres Lebens wird die Ukraine unweigerlich das Leben ihrer Soldaten kosten. Je mehr Munition und Waffen die Ukraine hat, desto mehr Soldaten werden lebend zu ihren Familien zurückkehren.

«ZUERST EIN KAFFEE»

Ich erinnere mich immer an den ersten Freund, einen Soldaten, den ich verloren habe.

Es war im Winter 2014-2015, fast ein Jahr nach der Anfangsphase der russischen Invasion.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Russland bereits die Krim und die östlichen Städte Donezk und Luhansk besetzt, und im Donbas tobten schwere Kämpfe.

Ich, damals eine 20-jährige Reporterin, war auf der Suche nach Abenteuern an der Front.

Mein Freund Oleksandr, ein ehemaliger Polizist, war dort stationiert und hatte zwei Aufgaben. Er sollte dem Vormarsch der russischen Truppen entgegenzuwirken und er sollte verhindern, dass Journalisten wie ich in Situationen geraten, die sich als tödlich erweisen könnten.

Er hatte Dienst beim Kontrollpunkt, der nahe am schwer beschossenen Abschnitt der Autobahn lag, die ins russisch besetzte Luhansk führte. Ich besuchte ihn und bat, weiter zu dürfen. Doch er lehnte er das ab. «Zuerst ein Kaffee». Bei diesem netten Nein blieb es, auch für andere Kollegen.

Dann rückten die russischen Truppen vor und brachten die Frontlinie noch näher an Oleksandrs Position heran. Ich erfuhr, dass sein Kontrollpunkt unter schweren Beschuss geriet und hörte, er sei getötet worden, und das nur wenige Tage vor seiner geplanten Ablösung.

Ich rief ihn ungläubig an. Sein Telefon war ausser Betrieb. «Eine übliche Sache an der Front», dachte ich.

Später kam die automatische Textnachricht: «Ich bin wieder verfügbar! Rufen Sie mich bitte an.»

Doch das stimmte nicht. Gemeinsame Freunde erzählten mir, dass sein Telefon an seine Frau weitergegeben worden war. Ich habe diese Nachricht viele Jahre lang aufbewahrt.

Seitdem habe ich viele Soldatenfreunde an der Front verloren.

DER VERLUST VON KOLLEGEN

Hauptmann Volodymyr Kiyan traf am 3. September 2015 in Shchastia, Gebiet Luhansk, auf eine Mine.

Oberfeldwebel Dmytro Hodzenko fiel am 31. März 2016 – einen Tag vor seiner Demobilisierung – durch tödlichen Beschuss in Zaitseve, Gebiet Donezk.

Hauptmann Denys Khilchenko geriet am 4. August 2022 in Marinka, Gebiet Donezk, unter Artilleriebeschuss.

Jewhen Sakun, ein Kameramann, mit dem ich zusammenarbeitete, wurde am 1. März letzten Jahres, in den ersten Tagen des russischen Einmarsches, bei einem Einsatz neben dem Kiewer Fernsehturm getötet.

Dann Oleksandr Makhov, mein ehemaliger Kollege und Freund. Vor einigen Tagen dann Oleksandr Bondarenko, ein ehemaliger Kollege.

Weder Makhov noch Bondarenko waren Berufssoldaten. Sie waren Journalisten, die zu den Waffen griffen, um die Ukraine zu verteidigen.

Makhov wollte nie eine militärische Laufbahn einschlagen. Er liebte das Wandern, Snowboarden und die Filmerei. Er träumte davon, ein Buch zu schreiben und Portugal zu besuchen. Wäre der Krieg in Russland nicht gewesen, hätte er sicher seine Ziele erreicht.

Ich weiss, dass es unmöglich ist, sie zurückzubringen, aber es ist möglich, das Leben von Menschen wie ihnen zu retten und ihnen zu ermöglichen, ihre Träume zu verwirklichen.

Dafür braucht die Ukraine Waffen und Munition.

Anna Myroniuk ist die Leiterin des Investigations-Teams (Recherchen und Enthüllungen) beim Kyiv Independent. Ihre Schwerpunkte sind die Themen Menschenrechte, Gesundheitswesen und illegaler Handel. Sie untersuchte auch politisches und unternehmerisches Fehlverhalten sowie Verfehlungen in der ukrainischen Armeeführung.

Myroniuk schrieb zuvor für die New York Times, die Washington Post, Coda Story und OCCRP (Organized Crime & Corruption Reporting Project, ein internationales Netzwerk).

Anna Myroniuk hat einen Master-Abschluss in Investigativem Journalismus der City University of London. Sie ist Chevening-Stipendiatin, Gewinnerin des #AllForJan Award 2023, Preisträgerin der «Forbes 30 Under 30 Europe Media & Marketing Liste 2022», Zweitplatzierte in der Kategorie Investigative Berichterstattung des «European Press Prize 2022» und Finalistin des «National Investigative Journalism Award of Ukraine 2022».

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«The Kyiv Independent» entstand ein paar Monate vor dem russischen Einmarsch und hat sich seither zu einer wichtigen Stimme des unabhängigen Journalismus in der Ukraine entwickelt. Wer das Projekt unterstützen will, findet hier die notwendigen Angaben: https://www.patreon.com/kyivindependent

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