Der Sitz des zurückgetretenen St.Galler Ständerats Paul Rechsteiner wird neu besetzt. Im ersten Wahlgang am 12.März treten vier Frauen zur Wahl an. Eine Betrachtung.
(Zuerst erschienen in www.linth24.ch)
Bevor wir über vier Frauen reden, reden wir über einen Mann: Das politische Schwergewicht Paul Rechsteiner. Viele Etiketten wurden dem 70-Jährigen verpasst: «Urgestein», «Saurier», «Sesselkleber» nannten Kollegen den Alt-Ständerat.
Tatsächlich hat Paul Rechsteiner eine für Schweizer Verhältnisse ausserordentliche lange Karriere hingelegt. Sie begann vor 46 Jahren: 1977 als Gemeinderat in St.Gallen, im Alter von 25 Jahren.
Die Basis für diesen Bollwerker des Sozialismus waren die Gewerkschaften: 1998 wurde Rechsteiner Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB). Er prägte ihn 20 Jahre lang.
Als eidgenössischer Parlamentarier dauerte Rechsteiners Karriere 37 Jahre: Von 1986 bis 2011 war er Nationalrat. 2011 wurde er Ständerat von St.Gallen, nachdem er in einem veritabler Coup, den damaligen SVP-Star Toni Brunner geschlagen hatte.
Tonis späte Rache
Kleiner Seitenblick: Es ist Esther Friedli, die Ehefrau von Toni Brunner, die jetzt für die Nachfolge von Paul Rechsteiner antritt, quasi Tonis späte Rache.
Die Wahl von 2011 war nicht nur historisch, weil damals mit Toni Brunner der Präsident der nationalen SVP verlor. Sie war historisch, weil damit der Kanton St.Gallen erst zum dritten Mal einen Sozialisten in den Ständerat schickte. Ausser Heinrich Scherrer im ersten Weltkrieg und Matthias Eggenberger in den 70-er Jahren waren alle anderen Ständeräte katholisch, konservativ oder freisinnig.
Auch die Ersatzwahl von Paul Rechsteiner verdient das Prädikat «historisch». Doch im Vergleich zu Rechsteiner treten dieses Mal politische Leichtgewichte an.
Auf jeden Fall eine Frau
Es ist das erste Mal in der Schweizer Geschichte, dass in einem Kanton ausschliesslich Frauen für einen Ständeratssitz antreten. Früher wunderte sich niemand, wenn nur Männer kandidierten. Schon deshalb verdient St.Gallen einen Platz in den Geschichtsbüchern.
Mit Sicherheit wird eine Frau gewählt, denn dass im zweiten Wahlgang ein Mann mit Erfolgschancen auftaucht, ist unwahrscheinlich.
Doch eine Frauenwahl bleibt im konservativen Kanton ausserordentlich. In der über 160-jährigen Geschichte waren nur zwei Frauen Ständerätinnen: Die heutige Bundesrätin Karin Keller-Sutter (FDP) und ihre Parteikollegin Erika Forster-Vannini.
Gemeinsame Merkmale
Die vier Kandidatinnen haben ihr Geschlecht gemeinsam, sind alles Nationalrätinnen und verloren alle schon Wahlen.
Barbara Gysi agiert seit 2011 in Bern. Sie schaffte damals die Direktwahl nicht, rutschte aber auf den Sitz von Paul Rechsteiner, als dieser vom National- in den Ständerat wechselte. Die anderen drei Kandidatinnen sind erst seit vier Jahren im Bundeshaus.
Auch bezüglich Wahlniederlagen haben alle vier mindestens einen Flecken auf der weissen Bluse.
Die Sozialdemokratin Barbara Gysi wollte 2012 für den St.Galler Regierungsrat kandidieren, scheiterte aber bereits parteiintern. Und 2018 wollte sie beim Gewerkschaftsbund in die Fußtapfen von Paul Rechsteiner treten, verlor aber auch hier.
Esther Friedli trat 2016 als «SVP-Geheimwaffe» (Blick) erst im zweiten Wahlgang für den St.Galler Regierungsrat an und unterlag dem FDP-Mann Marc Mächler.
Die Freisinnige Susanne Vincenz-Stauffacher wollte 2018 Ständeratskandidatin sein, schaffte aber nicht einmal die parteiinterne Qualifikation.
Die Grüne Franziska Ryser wurde von den Grünen als Ständerätin lanciert, landete aber 2019 beim ersten Wahlgang auf Platz fünf und gab auf.
Sozial- und Umweltschutz, Eidgenössisch und Glattgeschliffen
Die politischen Profile der vier Frauen unterscheiden sich so stark wie ihre Parteien.
Barbara Gysi und Franziska Ryser vertreten deckungsgleich dieselben Positionen. Ihr Schwergewicht sind eine liberale Gesellschaft, ein ausgebauter Sozialstaat, Umweltschutz und eine offene Aussenpolitik.
Die Positionen von Esther Friedli sind dazu spiegelverkehrt. Umweltschutz, Sozialpolitik und offene Aussenpolitik sind bei ihr Nullwerte. Dafür steht sie ein für eine restriktive Migrationspolitik, Ruhe&Ordnung und restriktive Finanzen.
Und Susanne Vincenz-Stauffacher? Sie bietet in all diesen Feldern Mittelwerte, glattgeschliffen, ohne extreme Ausschläge.
50’000 bis 150’000 Franken
Kandidatin Ryser gibt 50’000 Franken für den Wahlkampf auf. Mehr als doppelt so hoch sind die Budgets von Gysi oder Vincenz-Stauffacher und gar dreimal so hoch ist es bei Friedli.
Für viele Wähler matchentscheidend sind aber die direkten Begegnungen mit den Kandidatinnen. Hier hat Gysi im Linthgebiet die Nase vorn, noch vor Friedli. Beide traten mehrfach auf. Vincenz-Stauffacher und Ryser zeigten sich selten.
Wenn es nach dem St.Galler Tagblatt geht, dann steht Esther Friedli bereits mit einem Bein im Ständerat. Gemäss ihrer Umfrage vom 20. Februar wollen über 40% am Sonntag die Toggenburgerin wählen. Die anderen drei würden unter «ferner liefen» aufgelistet.
Nun ist es auch hier wie bei einem Fussballspiel: Abgerechnet wird nach dem Match, nicht vorher. Linth24 wird am Sonntag genüsslich und präzise die tatsächlichen Wahlergebnisse mit den Vorhersagen vergleichen.
Und nach dem Sonntag?
Prognosen sind schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen.
Ausgemacht ist: Von der linksgrünen Seite tritt jene Frau für die zweite Runde an, die am Sonntag besser abschneidet.
Auf der rechten Seite ist nicht klar, was die FDP bei einer Niederlage tut. Möglich ist Stimmenthaltung für Wahlgang zwei. Das hat bereits die «Mitte» vorgemacht, die mit Benedikt Würth bereits ihren Sitz im Trockenen hat.
Die Spekulation also bleibt und sei hier mit einem Satz zusammengefasst: Im zweiten Wahlgang, am 30.April, kommt es zum Duell von Friedli gegen Ryser, Beizerin gegen Maschineningenieurin, National gegen Grün-Sozial. Die Chance – oder die Gefahr – ist dannzumal gross, dass Esther Friedli die erste SVP-Frau überhaupt im Ständerat wird.
Auch das wäre historisch.