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Uwe Rohlfing (https://twitter.com/rasisneu) hat einen längeren Bericht über eine Führungsfigur des ukrainischen Militärs erstellt. Diesen Text habe ich gekürzt und redaktionell überarbeitet.
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Der Befehlshaber der ukrainischen Landstreitkräfte Generaloberst Oleksandr Syrskyj ist der strategische Kopf hinter der Offensive bei Kharkiv im Nordosten der Ukraine. Es ist nicht sein erster Erfolg gegen die russischen Streitkräfte. Doch der Mann, der die Ukraine zu Erfolgen geführt hat, meidet das Rampenlicht.
Bis zum letzten Wochenende wussten nicht viele Ukrainer, dass die erstaunliche Donbass-Offensive die Handschrift von Generaloberst Syrskyj trägt. Denn Kiew hält viele Informationen geheim, dazu gehören auch die Namen wichtiger Kriegsakteure.
Doch dann veröffentlichte das ukrainische Verteidigungsministerium ein Video von einer Minute Länge.
Zu sehen ist Syrskyj wie er im Zentrum des soeben eroberten Städtchen Balaklija eine Ansprache an die Soldaten hält. In Uniform und Schutzmontur, ohne Pomp und Euphorie, aber mit Stolz zelebriert er die Rückeroberung der Stadt.
Bis zur Besetzung durch die Russen lebten rund 30’000 Menschen in der Stadt. Am Tag der Befreiung war sie nahezu menschenleer.
DIE GEGENOFFENSIVE
In einer seiner seltenen Äusserungen seit Kriegsbeginn sagte Syrskyj, dass der Kampf grausam sei, dass er «unglaubliche körperliche und moralische Anstrengungen von unseren Männern und Frauen» verlange.
Die Botschaft des Generaloberst in Balaklija klang wie eine Mischung aus Demut und Zuversicht: «Dies ist nicht die letzte Stadt», sagte er. «Vor uns liegt Kupjansk, das schon halb von unseren Kämpfern eingenommen wurde. Vor uns liegen Izyum und viele andere.»
Es war ein Understatement, denn nur wenig später hissten UKR Soldaten auch in den genannten Orten und die gelb-blaue Flagge.
Syrskyj hatte nahe Balaklija eine Schwachstelle der russischen Verteidigung identifiziert. Laut Medienberichten hatte der Generaloberst die Militärführung überreden müssen, bevor er die Strategie mit dem Überraschungsangriff bei Balaklija umsetzen durfte.
Seither haben die ukrainischen Truppen grosse Teil der verlorenen Gebiete im Donbass zurückerobert. Für Syrskyj sind es die Taten, die zählen.
Im August sagte er noch: «»Der Feind brüstet sich mit imaginären Siegen und Blitzvorstössen und ihre Medien veröffentlichten Namen von ukrainischen Ortschaften im Osten, die sie gar nicht eingenommen hatten.»
DIE VERTEIDIGUNG VON KIEW
Dass die ukrainische Führung seinem Urteil letztlich vertraute, mag daran liegen, dass sich Syrskyj schon bei der Verteidigung der Hauptstadt Kiew im Februar und März als kluger Stratege erwiesen hatte.
Der amerikanischen Zeitung «Washington Post» gab Syrskyj bisher sein einziges ausführliches Mediengespräch zum Krieg. Er berichtet, wie er die Hauptstadt für einen Angriff wappnen liess, obwohl er nicht daran glaubte, dass dieser kommen würde.
Er hatte bis zum 24.Februar erwartet, dass Kämpfe, wenn überhaupt, dann in den von Russland kontrollierten Gebieten von Donezk und Luhansk beginnen würden. Doch angesichts der Ballung von russischen Streitkräften hinter der Grenze zu Belarus malte sich Syrskyj ein Szenario aus, das Wirklichkeit werden sollte: russische Panzerkolonnen steuern auf den Autobahnen auf Kiew zu!
Um sie aufzuhalten, liess Syrskyj zwei Verteidigungsringe um die Hauptstadt legen, einen innerhalb des Stadtgebiets und den anderen weit entfernt an der Peripherie der Vororte. So sollte die Innenstadt mit ihren historischen Gebäuden geschützt werden.
Im Nordosten und Nordwesten der Stadt baute er Artillerie-Verteidigungspositionen auf.
Ukrainische Flugzeuge und Hubschrauber – die zu den ersten Zielen russischer Truppen gehören würden – liess er rechtzeitig von den Luftbasen fortschaffen.
Der schnelle Durchmarsch der Russen zum Präsidentenpalast im Stadtzentrum konnte so verhindert werden.
Doch es kam der Tag, an dem er auf Satellitenbildern russische Soldaten in Kampfformation auf der anderen Seite des Flusses erkannte. «Das war wahrscheinlich der kritischste Moment, als ich dachte: War es das jetzt?», sagte Syrskyj der »Washington Post«.
Doch die Ukrainer hatten noch ein Ass im Ärmel. Sie liessen einen Staudamm jenes Flusses, hinter den Feindeslinien mit Sprengsätzen aufbrechen. Die Eindringlinge mussten eilig vor der Überschwemmung fliehen.
IN RUSSLAND AUSGEBILDET
Generaloberst Syrskyj, auch das ist eine bitteren Ironie dieses Krieges, absolvierte seine Ausbildung zu UdSSR Zeiten noch an der Höheren Militärkommandoschule in Moskau.
Ab 1990 diente er den Streitkräften der Ukraine. Kurz bevor Russland 2014 den Krieg in die unabhängige Ukraine brachte und unter anderem die Krim besetzte, erhielt Syrskyj den Auftrag, gemeinsam mit der Nato die Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte voranzutreiben.
Doch die Initiative kam zu spät für die Abwehr von Putins Truppen. Kiews Armee stand den Invasoren 2014 hilflos gegenüber.
Syrskyj erwarb sich mit dem geordneten Rückzug aus der Stadt Debalzewo 2015 große Anerkennung und wurde von damaligen Präsident Poroschenko 2019 zum Befehlshaber im Donbass ernannt.
Eine weitere Auszeichnung erhielt Syrskyj in diesem Jahr. Nach der erfolgreichen Verteidigung von Kiew im Februar und März verlieh Präsident Selenskyj dem Befehlshaber der Landstreitkräfte den Titel «Held der Ukraine».
Für weitere Auszeichnungen war bisher keine Zeit. Generaloberst Oleksandr Syrskyj befehligt zurzeit an der Front die Gegenoffensive im Donbass.