Text von Mick Ryan (@WarintheFuture; https://mickryan.com.au , ehemaliger Generalmayor der australischen Armee, Autor von «War transformed». https://twitter.com/WarintheFu…/status/1546039420062535680 Redaktionell von mir bearbeitet.
Seit der russischen Invasion der Ukraine sind bereits mehr als vier Monate vergangen. Während des Krieges haben sich die russische und die ukrainische Strategie weiterentwickelt. Heute ein Update zu Russlands Strategie.Ziel ist es, Einblicke in die Weiterentwicklung Putins «Theorie des Sieges» in der Ukraine zu geben und damit eine Grundlage für die Entwicklung der Verteidigungsmechanismen der Ukraine (und des Westens) gegen Russland zu schaffen.
AUSLÖSCHEN DER UKRAINE
Hauptziel von Putin bleibt die absolute Unterwerfung des ukrainischen Volkes und die Auslöschung seiner Souveränität.Das hat Putin in seiner Rede vor der Invasion beschrieben. Dieses Ziel wurde – zumindest nach unserem Verständnis – bei der Rede Putins zum Tag des Sieges am 9. Mai auf dem Roten Platz leicht durcheinandergebracht. Aber in jüngerer Zeit fand Putin zurück zu seiner Ur-Botschaft.
Letzten Monat bestätigte Präsident Putin, dass er in der Ukraine einen imperialistischen Eroberungskrieg führt. Es geht ihm nicht mehr um die Verteidigung gegen die «Nato-Aggression», wie er noch am 9.Mai behauptet hatte (Analyse seiner Rede: https://www.washingtonpost.com/…/putin-imperial-russia…/
Letzte Woche verdeutlichte Putin dies noch einmal, indem er anmerkte, dass sich der Krieg bis zum «letzten ukrainischen Überlebenden» hinziehen könnte. Während Putins brutaler Aggression gegen das ukrainische Volk hat sich sein Gesamtziel also nicht geändert.
ERSTER PLAN GESCHEITERT
Was sich seit dem 24. Februar entwickelt hat, sind die Mittel und Wege, mit denen er dieses Ziel erreichen will. Putins Plan A sah noch vor vier Monaten eine blitzschnelle Militäroperation an mehreren Fronten vor, um das ukrainische Militär in die Knie zu zwingen.
Dies würde die Beseitigung (wahrscheinlich die Ermordung) der demokratisch gewählten Regierung und die Einsetzung von Quislingen erleichtern, die nach den Wünschen Putins und seiner Oligarchen handeln würden. Wie die Welt sehen konnte, ging dieser Plan nicht in Erfüllung.
Trotz ihrer Rückschläge auf dem Schlachtfeld haben Putin, Lawrow und seine Verteidigungs- und Geheimdienstchefs eine alternative Theorie des Sieges für die Ukraine zusammengeschustert. Sie besteht aus vier Elementen.
PUTIN: ZERSTÖRUNG DER UKRAINISCHEN ARMEE
Erstens haben die Russen ihre militärischen Operationen priorisiert und gleichzeitige Offensiven an mehreren Fronten vermieden. Sie haben sich im Osten der Ukraine aus Offensivaktionen und im Süden auf Defensivkampagnen konzentriert. Dies erlaubt den Russen, die übriggebliebenen Streitkräfte besser zu bewirtschaften.
Und es hat die Ukrainer in einen Abnutzungskrieg hineingezogen, etwas, das sie in den Schlachten von Kiew und Charkiw vermieden haben. Das erste Element der russischen Siegestheorie: Zerstöre die ukrainische Armee schneller, als sie wieder aufgebaut werden kann.
PUTIN: ERDROSSELUNG DER WIRTSCHAFT
Punkt zwei der russischen Strategie ist es, den Süden der Ukraine zu halten. Dies erlaubt es, die Ukraine wirtschaftlich auszubluten und das entspricht einem weiteren Teil von Putins Siegestheorie.Gegen dieses Vorgehen entwickeln die ukrainischen Partisanen im Innern des besetzten Gebietes Aktionen, welche die russische Moral zersetzen. Und die ukrainischen Gegenangriffe erobern langsam Territorium im Gebiet Kherson zurück.
PUTIN: HINAUSZÖGERN DES KRIEGES
Drittens sieht Russland jetzt wahrscheinlich Vorteile darin, den Krieg hinauszuzögern. Die Ukrainer sind neuerdings auf westliche Munition angewiesen. Und durch das Festhalten an den südlichen Regionen werden die Ukrainer immer abhängiger von internationaler Wirtschaftshilfe. Zeit ist Putins Waffe und darin sieht er eine Chance.
PUTIN: WESTLICHE UNGEDULD
Putin glaubt an die kurze Aufmerksamkeitsspanne und der Mangel an strategischer Geduld des Westens. In der Ukraine könnte dasselbe geschehen, wie in Somalia, Irak und Afghanistan. Erst recht, wenn es darum geht im Westen den Winter zu überstehen.Angesichts der steigenden Energiekosten, der zunehmenden Inflation und der allgemeinen Kriegsmüdigkeit – in der Bevölkerung, die keine Opfer bringt – rechnet Putin mit einem Rückgang der Hilfe für die Ukraine.
Mit der Zeit könnte ein grösserer Druck von Seiten der alten europäischen Mächte für irgendeine Form des Entgegenkommens der Ukraine entstehen.
PUTIN: DAS GELD FLIESST WEITER
Schliesslich nutzt Russland viertens die fortgesetzten Energieexporte, um Einnahmen zu generieren, mit denen der Krieg in der Ukraine finanziert werden kann. Es exportiert ungehindert fossile Brennstoffe in viele Nationen. Und die Einnahmen fliessen weiterhin auf russische Konten.
GEGENSTRATEGIEN SIND MÖGLICH
Putins überarbeiteter Siegestheorie zu erforschen ist jedoch keine akademische Übung. Wenn die westlichen Nationen verstehen können, wie Putin diesen Krieg zu gewinnen gedenkt, können Mechanismen entwickelt werden, die jedes Element von Putins Ansatz bekämpfen. So wie Putin seine Siegestheorie für die Ukraine weiterentwickeln wird, müssen auch die Nationen des Westens ihren Ansatz zur Unterstützung der Ukraine weiter überarbeiten und anpassen.
UKRAINE: LANGSTRECKENRAKETEN
In den letzten Wochen gab es einige Erfolge. Westliche Langstreckenraketen haben es den Ukrainern ermöglicht, Russlands Artillerie, den wichtigsten Killer auf dem Schlachtfeld, zu zersetzen. Die neuen Waffen haben ihnen auch erlaubt, südliche Gegenangriffe mit dem Ziel zu unterstützen, ihre Seehäfen zurückzuerobern.
UKRAINE: KOMPRIMISSLOSE UNTERSTÜTZUNG
Viele Nationen und die NATO haben sich politisch und strategisch verpflichtet, die Ukraine «bis zum Ende» zu unterstützen, um die Herausforderung strategischer Geduld anzugehen. Und die Sanktionen gegen Russland entwickeln sich weiter, um Schlupflöcher zu schliessen.
UKRAINE: SIEG IST MÖGLICH
Wie Lawrence Freedman, @LawDavF, emeritierter Professor des «War Studies King’s College London» schreibt, ist dieser Krieg es ein Kampf, den die Ukraine gewinnen kann. Aber es erfordert strategische Geduld und kontinuierliches Engagement von Militär, Geheimdiensten, wirtschaftlicher und humanitärer Hilfe für die Ukraine.