Ein Erfahrungsbericht zu Covid-19 in Frankreich und der Vergleich mit der Schweiz.
Als ich Ende März von der Schweiz nach Südfrankreich ausreiste, kurz bevor die Grenze definitiv geschlossen wurde, unterschied sich die Schweiz und Frankreich äusserlich kaum: Die Bahnhöfe waren ausgestorben, die Flughäfen stillgelegt.
In Frankreich war die Autobahn am 29. März – und in den kommenden Wochen – leergefegt. Auf den 720 Kilometern zwischen Basel und der Meeresküste in Südfrankreichs sah ich in sieben Stunden nur geschätzte 30 Lastwagen und wurde von keinem einzigen PW überholt. Und das auf einer der Hauptachsen zwischen Italien-Spanien-Deutschland und der Schweiz.
Die grossen Unterschiede zwischen den beiden Ländern zeigten sich in den kommenden Wochen.
Lockdown: Frankreich schloss wie die Schweiz per Mitte März alles, was nicht überlebensnotwendig war. Dazu kamen in Frankreich der Stopp bei Bus und Bahn und der Hausarrest für Alle. Der maximale Aktionsradius rund um die Wohnung betrug 1 Kilometer für erlaubte Spaziergänge. Wer ausserhalb dieser Zone oder ohne Passierschein erwischt wurde, musste 135 Euro Busse zahlen. Rund eine Million Strafzettel wurden verteilt.
Trotzdem wurden die Regeln nicht nur wegen der Bussen eingehalten. Das ganze Massnahmenpaket bezeichnete die Regierung als «Confinement» (Beschränkung). Dieser tatsächlich komplette Lockdown dauerte 55 Tage. In der Schweiz gab es einen halben Lockdown, doch selbst das ging einigen Leuten zu weit, weshalb sie demonstrierten. Anders als die Franzosen, die sich fügten und zuhause blieben.
Information: In der Schweiz informierte der Bundesrat und seine Chefbeamten fast täglich in live übertragenen Medienkonferenzen und beantwortete Journalisten-Fragen.
In Frankreich richtete sich Staatspräsident Emanuel Macron vom 12. März bis zum 14. Juni mit vier Reden an sein Volk. Jeder dieser eleganten Appelle wurden um 20.00 Uhr auf fast allen TV-Kanälen live verbreitet. Die Tagesschau fiel aus. In Erinnerung bleibt sein Aufruf «Nous sommes en guerre» – «wir sind im Krieg», was er in seiner zweiten Rede gleich sechsmal sagte.
Hinzu kamen zwei am TV gezeigte Medienkonferenzen von Premier-Minister Eduard Philipp und seinen Ministern für Gesundheit, Wirtschaft, Ordnungskräfte und Erziehungswesen.
Dankbarkeit: Von Mitte März bis Anfang Juni hörte man in meinem Dorf – wie in ganz Frankreich – pünktlich um 20 Uhr Applaus, Pfannenlärm und Trillerpfeifen. Jeden Tag. Es war der Dank für die «Heldinnen und Helden» der Pflege, die Verkäuferinnen, die Pöstler, Müllmänner und auch für die Polizisten, die Bussen verteilten. Die Regierung versprach dem Pflegepersonal eine Sonderprämie von 600 bis 1000 Euro.
In der Schweiz gab es eine vom «Blick» initiierte zentrale Dankesaktion am 20. März, wobei für ein paar Minuten geklatscht wurde. Daneben gab es spontane Aktionen und – wie in Frankreich – Solidaritätsplakate.
Werbung und Vertrauen: Im französischen Radio oder im TV vergehen kaum zwei Stunden pro Senderkanal, ohne dass eine Corona-Warnung ausgesprochen wird. In den Radio- und TV Spots heisst es: «Der Virus zirkuliert weiter» und «Wer seine Nächsten schützen will, verzichtet auf Nähe mit seinen Nächsten». In der Schweiz ist die Werbeintensität weitaus geringer.
In Frankreich vertrauen nur 40% der Befragten der Regierung und glauben, dass sie in der Lage ist, in der Covid-Krise das Richtige zu tun. In der Schweiz sind es mehr als doppelt soviele. Die Vertrauen in die schon vor dem Virus unbeliebte französischen Regierung ist nicht gestiegen.
Masken: Die Regierung in Paris hatte Monate vor dem Ausbruch des Virus die sagenhafte Zahl von über einer Milliarde Masken vernichtet, weil deren Datum abgelaufen war. Ein klitzekleines Detail ging dabei vergessen: Es wurden keine neuen Masken bestellt.
Als Covid-19 ausbrach, beschlagnahmte die Regierung alle verfügbaren Masken und kaufte weitere zu überhöhten Preisen ein. Solange es keine Masken gab, behauptete die Regierung, dass es keine Masken für Privatpersonen brauche. Seit die Masken da sind, wurden sie faktisch für obligatorisch erklärt. Das sind sie heute in allen öffentlichen Verkehrsmitteln sowie Ämtern und in praktisch allen Läden und Geschäften.
Auch die Schweiz war am Anfang maskentechnisch nicht auf der Höhe. Sie verzichtet allerdings bis heute auf eine Maskenpflicht.
Altersheime: In Frankreich gab es viel mehr Tote in Altersheimen als in der Schweiz. Aber wie in der Schweiz, gibt es auch in Frankreich Altersheime ohne Opfer.
Ich erlebte das im Altersheim «Les Mimosas» in Albi, im Südwesten von Frankreich. Dort sagte mir der Direktor stolz, dass es keinen einzigen Virus-Fall gab, weder bei den Klienten noch beim Personal. Möglich sei das mithilfe sehr strikter Regeln. Die Bewohnenden durften ihre Zimmer nicht verlassen und mussten auch dort essen. Angehörige konnten ab Mai nur via Skype Kontakt aufnehmen.
Erst seit Anfang Juni sind Besuche erlaubt, allerdings nur mit Voranmeldung und nach einem strikten Protokoll: Für einen Besuch wird eine Stunde kalkuliert: 15 Minuten für die Vorbereitung aller Beteiligten, 30 Minuten Besuchszeit ohne den geringsten Körperkontakt, 15 Minuten abschliessende Desinfektion der Hände, Stühle, Türgriffe und des Tisches, der als Abstandhalter benutzt wurde.
Das grosse Aufatmen: Die Schweiz war in Sachen Wiedereröffnung ein paar Wochen schneller als Frankreich. Während in der Schweiz Coiffeure, Tattoo-Studios und Blumenläden wieder öffneten, gab es in Frankreich noch Stadtzentren, die man nur mit Maske betreten durfte. Und während sich in der Schweiz Menschen mancherorts in grosser Zahl versammelten, blieben die Strände und Pärke Frankreichs geschlossen.
Doch seit ein paar Tagen gibt es in Frankreich das «De-Confinement». Jetzt darf man wieder ins Restaurant und muss als Gast die Maske nur beim Betreten des Restaurants tragen oder wenn man sich innerhalb des Raumes bewegt. Das Servierpersonal ist sowieso mit Maske und Handschuhen ausgerüstet.
Grosse Einkaufszentrum «empfehlen» neuerdings das Tragen von Masken, machen es aber nicht mehr überall zur Bedingung.
Die Folgen sind sichtbar. Die Zahl der Maskenträger in der Öffentlichkeit nahm innerhalb von wenigen Tagen stark ab. Die Menschen atmen auf. Und fürchten sich gleichzeitig vor einer zweiten Welle.”
Mario Aldrovandi
(Artikel und Fotos erstmals erschienen in www.thurvita.today)